Boris Pistorius, bis zu seiner Ernennung zum Verteidigungsminister vor wenigen Monaten eigentlich nur politisch interessierten Zeitgenossen einigermassen bekannter Innenminister des norddeutschen Bundeslandes Niedersachsen, ist mittlerweile beliebtester Politiker zwischen Flensburg und Konstanz. Robert Habeck dagegen, der zuvor vor allem medial geradezu durch die Wolken geschossene grüne Wirtschaftsminister, befindet sich im freien Fall. Was für ein Spiel läuft da eigentlich gerade ab?
Der schwäbische (nicht nur) Märchendichter Wilhelm Hauff – «Schloss Lichtenstein», «Der kleine Muck» – schrieb einst in seinem «Morgenlied» die Zeilen «Gestern noch auf stolzen Rossen, heute durch die Brust geschossen …». Der Volksmund hat die zweite Zeile gern umgedichtet in «… heute in das Knie geschossen», wenn er schadenfroh auf irgendwelche schiefgelaufenen Ereignisse reagieren wollte.
Am häufigsten geschah und geschieht dies mit Blick auf die Politik. Und zwar gleichermassen bevorzugt mit Blick auf einzelne Politiker oder auch ganze Parteien. Und am begeistertsten klatscht das Publikum, wenn eine von den Medien aber auch von ihm selbst kurz zuvor noch in mitunter schwindelnde Höhen hochgejubelte Person einen jähen Beliebtheits-Absturz erleidet.
Die politische Geschichte kennt viele solcher Beispiele. Etwa den glamourösen CSU-Sonnyboy und zeitweisen Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg, der unter grossem parlamentarisch und journalistischen Beifall die als angeblich unzeitgemäss erachtete Wehrpflicht aussetzte –, aber nicht deswegen dem öffentlichen Pranger anheimfiel, sondern weil er glaubte, seine Doktorarbeit mal so eben aus dem Internet zusammengoogeln lassen zu können. Oder der kurzzeitige sozialdemokratische Strahlemann Martin Schulz, der von den Genossen mit geradezu unglaublichen 100 Prozent zum Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten hochgejazzt wurde, um nach der folgenden Wahlniederlage gnadenlos in die Wüste geschickt zu werden.
Ganz zu schweigen von den drei Frauen auf dem Schleudersitz im Wehrressort – Ursula von der Leyen (CDU), Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Christine Lambrecht (SPD) –, die zunächst allesamt (auch wieder medial) wegen der «modernen» Geschlechterverwendung auf der Politbühne gefeiert wurden, inzwischen jedoch (nicht immer zurecht) allesamt als krasse Fehlbesetzungen bewertet werden.
Aus Schaden wird man klug?
Der bereits angesprochene Volksmund hat für nahezu alle Lebensbereiche eine Weisheit parat. So auch diese: «Aus Schaden wird man klug». Wirklich? Wird man das? Weit gefehlt! Es mag auch an der mangelnden Differenzierungsfähigkeit in weiten Teilen des Journalismus liegen, vielleicht auch an der Lust des Publikums an immer schreihalslerischeren Schlagzeilen oder bis an die Grenzen der Verfälschung reichenden Vereinfachungen von Sachverhalten, dass die offensichtliche Begeisterung an den die Karrieren prägenden Berg-und-Tal-Fahrten ungebrochen ist.
Da wählt der Parteitag der bayerischen CSU soeben ihren Vorsitzenden und Ministerpräsidenten Markus Söder mit sage und schreibe 100 Prozent zu ihrem Spitzenkandidaten für die Landtagswahl am 8. Oktober! Mit solchen Ergebnissen hatten sich nicht einmal die einst unumschränkten Politspitzen in der DDR getraut, vor die Bevölkerung zu treten.
Ja, hat die weissblaue bayerische «Staatspartei» nichts gelernt aus dem sozialdemokratischen «Fall Schulz»? Es ist doch klar, dass das jeweilige Partei-Fussvolk damit ganz bewusst jegliche Verantwortung auf die Person an der Spitze für den Fall abwälzt, dass das regionale Wählervolk am Ende nicht so abstimmt, wie es die Strategen erhoffen. Also im Falle von Söder: Mindestens 40 Prozent plus. Das zu erreichen, wird für den wendigen Franken eine ordentliche Herkulesarbeit werden. Jedenfalls angesichts der seit Jahren – auch in Bayern – zu beobachtenden Tendenz, dass hohe Wahlgewinne eher seltener werden.
Ein «Provinzler» wird berühmt
Nächstes Beispiel: Boris Pistorius. Als der einstige Oberbürgermeister von Osnabrück noch Landesinnenminister von Niedersachsen war, wurden ihm (durchaus von Freund als auch vom politischen Gegner) klassische Tugenden zugebilligt – Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Entscheidungsfreude, Pragmatismus, Ideologieferne usw. Alles gut, aber eigentlich selbstverständlich und nicht unbedingt zu himmelhohem Jauchzen animierend. Kein Wunder, dass zunächst gleich wieder (und zwar erneut: politisch wie medial) miesepetrisch geunkt wurde, da habe der Kanzler in seiner Personalnot halt, sozusagen aus der zweiten Reihe, einen «Provinzler» holen müssen.
Mittlerweile führt Pistorius – übrigens mit deutlichem Vorsprung – die Rangliste der im Volk beliebtesten Politiker in Deutschland an. Warum? Ganz einfach. Weil er getan hat, was der Amtseid ihm auferlegt. Nämlich Ordnung zu bringen in ein Ministerium und eine Organisation namens Bundeswehr, die als finanzpolitischer Steinbruch über vier Jahrzehnte praktisch bis zur Bedeutungslosigkeit heruntergespart worden war. Und dies, obwohl den von der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommenen Soldaten auf dem Balkan, in Afghanistan, in Mali, den Baltischen Ländern und anderen Teilen der Welt immer mehr und gefährlichere Aufgaben zugeschanzt wurden. Ganz zu schweigen von den Lieferungen an Geräten, Waffen und Ausrüstungen aus ihren ohnehin kaum noch vorhandenen Beständen an die von Russland überfallene Ukraine.
Der geplatzte Traum vom ewigen Frieden
Also haben die Deutschen – aufgeschreckt vom Kanonendonner aus der Ukraine – inzwischen begriffen, dass der Traum von der ewig dauernden Friedensdividende eine schöne Illusion war und die über Dekaden währende Aussen- und Sicherheitspolitik wieder deutlich in den Vordergrund rücken muss? Das ist augenscheinlich so. Denn: Weil Pistorius seinen Job (bislang) ordentlich macht, erklimmt er die Popularitäts-Skala halt ganz nach oben. Nun funktioniert in der Politik das Spieglein-an-der-Wand-Spiel mit den Beliebtheitswerten ein wenig so wie das physikalische System der kommunizierenden Röhren, wo Schwerkraft und Luftdruck einander bedingen. Anders gesagt: Der Aufstieg von Pistorius setzte den Abstieg einer anderen Person voraus.
In diesem Fall des im vorigen Jahr medial fast durch die Wolken geschossenen grünen Herzbuben Robert Habeck. Hatten die journalistischen Durchblicker in «der Hauptstadt» und in den redaktionellen Grossbüros in dem smarten «Erklärer» aus Nordfriesland nicht schon den künftigen Kanzler der Republik gesehen? Zumindest jedenfalls den (gefühlt) unanfechtbaren grünen Kandidaten für das Regierungszentrum an der Spree?
Tatsächlich aber reicht eine – wahrlich nach Vetternwirtschaft riechende – Affäre mit seltsamen Personalentscheidungen im Bundeswirtschaftsministerium, um Habeck (in Volkes Gunst) mehr oder weniger in den freien Fall übergehen zu lassen. Nun ist die Bevorzugung von Freunden (oder eher Spezis) ja wirklich nicht ganz unbekannt in der deutschen Politik. Im vorliegenden Fall allerdings werden die Grünen von ihren eigenen, nicht selten durchaus selbstgerecht aufgestellten, moralischen Postulaten eingeholt, wonach sie – die einstige Sonnenblumen-Bewegung – wenn schon nicht die Reinheit in Person, so doch wenigstens in Partei seien.
Auf dem Boden der Tatsachen gelandet
Der Popularitätsabstieg Habecks und der grüne Punkteverlust bei den Meinungsumfragen lässt sich freilich noch auf ein weiteres Lehrbuch für Realpolitik zurückführen – auf ein Werk, das den Titel tragen könnte «Wenn Träume auf Wirklichkeit treffen». Was musste die Umweltpartei nicht schon an «Kröten» schlucken, seit sie nach den vorigen Bundestagswahlen die «Koalition des Fortschritts» mit Sozial- und Freidemokraten eingegangen ist. Die Räumung von Lützerath, den Kompromiss beim Atomkraft-Ausstieg, den befristeten Weiterbetrieb von Kohlekraftwerken, massive Waffenlieferungen an die Ukraine, um Wladimir Putins Allmachts-Phantastereien einzudämmen. Gewiss, bei Weitem nicht alles ist ursächlich von ihnen zu verantworten. Geradestehen dafür allerdings müssen sie trotzdem.
Eine Person freilich reitet immer noch munter auf stolzen Rossen durch die politische Welt. Eine Amazone. Annalena Baerbock, die Bundesaussenministerin. Sie kann sogar dem Chinesenboss Xi Jinping wegen dessen Drohgebärden die Leviten lesen – und erntet dafür daheim Applaus, ohne dass zum Beispiel danach gefragt wird, was denn wohl geschähe, wenn Taiwan wirklich überfallen würde. Dafür investieren deutsche Multis wie die BASF hohe Milliardensummen im Reich der Mitte, während die Politik immer lauter die Notwendigkeit beschwört, Deutschland und Europa müssten unabhängiger werden von China.
Segen und Drecksarbeit
Aber es ist traditionell so etwas wie ein eisernes Gesetz: Wer an der Spitze des Auswärtigen Amtes steht, rangiert immer weit oben im Ansehen der Bundesbürger. Das war beim singenden Postillon Walter Scheel so, genau wie bei dessen Nachfolger Hans-Dietrich Genscher. Ohne deren Leistungen im Zusammenhang mit der Brandt’schen Ost- oder der Kohl’schen Wiedervereinigungspolitik zu schmälern, ist es halt tatsächlich so, was einmal der frühere Finanz- und anschliessende Verteidigungsminister Hans Apel (SPD) klagte: «Der Aussenminister kann segnend durch die Welt fahren und den Frieden beschwören. Die unbequeme und teure Drecksarbeit müssen dann wir anderen machen.» Ganz offensichtlich sah der Hanseat Apel sich in dieser Rolle nicht auf stolzen Rossen sitzend.