Der gebürtige Zürcher Walter Denz lebt seit 30 Jahren in Russland. Er ist mit einer Russin verheiratet, besitzt seit 2021 auch einen russischen Pass und betrieb in St. Petersburg und Moskau bis vor kurzem eine Sprachschule. Im Gespräch erzählt Denz, wie er und seine Familie den Kriegsausbruch erlebten, wie sein Umfeld darauf reagierte und was er über die Wirkung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland denkt.
Die Nachricht am 24. Februar vom russischen Einmarsch in die Ukraine erfuhr Walter Denz am Radio in den Skiferien in Davos. Zusammen mit einer befreundeten russischen Familie hatten er und seine fünfköpfige Familie sich dort für ein paar erholsame Tage eingerichtet. Die Nachricht löste zunächst totale Konsternation aus. Damit hatten er und sein Umfeld überhaupt nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor hatten Denz und sein russischer Kollege russische Aktien gekauft. Dann verbrachte er hektische Stunden am Telefon. Es gab unzählige Anfragen zu beantworten und Entscheidungen zu fällen: Wie sollen die Teilnehmer seiner Sprachkurse in St. Petersburg und Moskau reagieren, wann und wie können sie ausreisen? Kann die Sprachschule weiter betrieben werden? Denz war ständig in Kontakt mit dem schweizerischen Konsulat in St. Petersburg, auch mit der dortigen deutschen Schule, deren Vorstand er mehrere Jahre präsidiert hat.
Tiefe Niedergeschlagenheit nach Kriegsausbruch
Drei Tage nach der Invasion in die Ukraine wurde der europäische Luftraum für den Verkehr mit Russland geschlossen. Flugreisen waren praktisch nur noch via Istanbul oder Belgrad möglich. Wenige Tage nach dem 24. Februar flog Natascha, die Frau von Walter Denz, nach Helsinki und reiste von dort mit dem Zug weiter nach St. Petersburg, wo die Familie bisher gewohnt hatte und wo sich auch der Hauptsitz seiner Sprachschule befand. Etwas später traf auch er auf diesem Weg wieder in der früheren Zarenmetropole ein.
Die Stimmung unter seinen Bekannten und Mitarbeitern in St. Petersburg und ebenso in Moskau, wo er eine Zweigstelle seiner Sprachschule betrieb, sei in der ersten Zeit nach Beginn des Ukraine-Krieges völlig niedergeschlagen und verunsichert gewesen, erinnert sich Walter Denz. Alle hätten sich gefragt, wie es weitergehen werde, nachdem so viele ausländische Firmen und Arbeitgeber sich entschieden hatten, ihre Geschäfte mit Russland abzubrechen. In seiner Sprachschule in Russland wurden neben Russisch für Ausländer auch Deutsch-, Französisch- und Italienisch-Kurse für Russen angeboten.
Auch Walter Denz sah vorläufig keine tragfähige Zukunft mehr für seine Sprachschulen in Russland. Er und seine Frau entschieden sich, dass die Familie bis auf weiteres in Uster, wo sie eine Wohnung besitzen, bleiben würden. Die beiden jüngeren Kinder, ein Zwillingspaar, gehen dort inzwischen in die Kantonsschule, der ältere Sohn besuchte schon vorher die Internats-Mittelschule in Davos.
Umzug der Sprachschule nach Riga
Angesichtes der anhaltenden marktmässigen und logistischen Schwierigkeiten beschloss Denz im April, den Hauptsitz seiner Sprachschule nach der lettischen Hauptstadt Riga zu verlegen. In der baltischen Ostsee-Metropole haben sich schon in früheren Zeiten immer wieder verschiedene Institutionen niedergelassen, die mit Russland zu tun hatten. Auch mehrere regierungskritische russische Mediendienste wie Meduza, Novaya Gazeta oder Doschd sind wegen der Repression durch das Putin-Regime nach Riga umgezogen. (Dem Fernsehsender Doschd ist im Dezember von den lettischen Behörden aus nicht ganz durchsichtigen Gründen die Sendelizenz entzogen worden. Er hat aber eine neue Sendebewilligung in den Niederlanden bekommen.)
Seit Ende Mai ist die Sprachschule von Walter Denz in der lettischen Hauptstadt in Betrieb. Unterrichtet wird in erster Linie Russisch mit dem Angebot, diese Sprache inklusive Unterkunft bei einer russischsprachigen Familie praktizieren zu können. Dieses Angebot lässt sich auch in Riga weitgehend verwirklichen, denn in Riga spricht rund die Hälfte der Bevölkerung Russisch. Von den nur gut 1,5 Millionen Einwohnern Lettlands gehört ungefähr ein Drittel der russischen Minderheit an.
Das hat wesentlich damit zu tun, dass Lettland wie die beiden anderen baltischen Staaten, Estland und Litauen, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Auflösung zu Beginn der 1990er Jahre zum Sowjetimperium gehörten. In diesen Jahrzehnten zogen sehr viele Russen in das vergleichsweise westlich oder europäisch geprägte Baltikum – eine Entwicklung, die damals von Moskau zur eigenen Machtsicherung gezielt gefördert wurde.
Dennoch war es für Walter Denz nicht einfach, genügend ausgebildetes Lehrpersonal für seine russischen Sprachkurse in Riga zu finden. Von den Lehrkräften, die er in Russland beschäftigt hatte, konnte nur eine Person nach Riga wechseln, weil Lettland nach der Ukraine-Invasion nur noch in seltenen Ausnahmefällen Einreisevisa an russische Staatsbürger erteilt. Das im Baltikum aus historischen Gründen vielseitige Misstrauen gegenüber dem riesengrossen russischen Nachbarn hat sich seit dem 24. Februar spürbar vertieft. Trotz des hohen Anteils der russischen Bevölkerung wird in Lettland nur Lettisch als Amtssprache anerkannt. Diese nicht unproblematische Entscheidung ist 2012 durch eine klare Mehrheit der stimmberechtigten Bevölkerung bestätigt worden.
Das Baltikum im Schutz der Nato
Alle drei baltischen Länder hatten schon vor dem Ukraine-Krieg damit begonnen, ihre Abhängigkeit von russischen Gas- und Erdöllieferungen erheblich zu reduzieren. Inzwischen haben sich die drei ehemaligen Sowjetrepubliken praktisch unabhängig gemacht von solchen Bezügen. Alle drei sind seit rund zwanzig Jahren Mitglieder der Nato und der EU. Dass sich nach dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch die nordischen Nachbarn Finnland und Schweden entschlossen haben, sich dem Nato-Bündnis anzuschliessen, wird im Baltikum besonders nachdrücklich begrüsst. Die Frage ist durchaus berechtigt, ob die Ukraine von Putins Überfall verschont worden wäre, wenn sie gemäss Kiews Wünschen nach der Moskauer Krim-Annexion in die Nato aufgenommen worden wäre.
Für den Unternehmer Denz ist die Nachfrage nach Russischkursen in seiner neu eröffneten Rigaer Sprachschule ermutigend. Es sind vor allem gut qualifizierte Vertreter aus staatlichen oder akademischen Institutionen im Westen, die sich für seine Sprachkurse interessieren und es angesichts der heute erschwerten Reise- und Kontaktmöglichkeiten nach Russland vorziehen, ihre Russischkenntnisse in diesem grenznahen Umfeld zu erweitern.
Was denken die Russen über den Ukraine-Krieg?
Im Gespräch mit Walter Denz bleiben die Fragen, weshalb Putin sich im Februar zum Überfall auf die Ukraine entschlossen hat und was die russische Bevölkerung heute darüber denkt, unerschöpfliche Themen. Es gibt dazu seiner Meinung nach keine eindeutigen Antworten. Am ehesten noch lasse sich Putins irrwitzig erscheinende Entscheidung zum Ukraine-Einmarsch damit erklären, meint er, dass der Kremlchef von der Kamarilla seiner Komplizen und Geheimdienste völlig falsch beraten wurde. Offenbar war der allmächtige Langzeitherrscher in diesem servilen Umfeld in der Wunschvorstellung bestärkt worden, dass der Feldzug ebenso glatt, schnell und für ihn innenpolitisch triumphal ablaufen würde wie die Annexion der Krim 2014.
Aber selbst wenn man von dieser Annahme ausgeht, stellt sich die Frage, warum Putin, der sonst meist den Eindruck eines gerissenen, mit allen Wassern gewaschenen Machtmanipulators erweckte, sich in der Einschätzung des ukrainischen Widerstandes derart krass verkalkulieren konnte.
Und was denken die Russen wirklich über diesen Krieg? Für Denz ist klar, die Mehrheit glaubt an die seit Jahren offen oder unterschwellig eingetrichterte Propaganda-Erzählung des Regimes: Die Amerikaner sind die primären Bösewichte, sie wollen die Welt allein beherrschen, Russland demütigen oder gar zerstören, wie die Kremlmedien heute behaupten. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums ist letzten Endes vom CIA organisiert worden. Die von den USA angeführte Nato ist das absolute Feindbild.
Alexei Wenediktow, der frühere Chefredaktor von «Radio Moskau», in dem bis zum Ukraine-Krieg erstaunlich offen und kritisch über politische Themen diskutiert werden konnte, hat das aktuelle Meinungsbild so beschrieben: 60 Prozent der Bevölkerung ist restlos oder latent überzeugt von der Notwendigkeit dieses Krieges, die andern 40 Prozent sind dagegen oder latent dagegen. Aber die meisten Russen, die den Ukraine-Krieg kritisieren, äussern das nicht öffentlich – schliesslich riskiert man dafür den Verlust des Arbeitsplatzes und langjährige Gefängnisstrafen. «Radio Moskau» ist von der Obrigkeit kurz nach Kriegsbeginn geschlossen worden. Wie in vergangenen Sowjetzeiten spielen sich die eigentlichen Diskussionen heute wieder in den berühmten Küchengesprächen im Freundes- oder Bekanntenkreis ab.
Skeptisch gegenüber den Sanktionen
Die Wirkung der vom Westen gegenüber Russland verhängten Sanktionen beurteilt Walter Denz weiterhin skeptisch. In Petersburg etwa sei auf den ersten Blick davon kaum etwas zu erkennen. Die Restaurants in der Stadt seien immer noch voll. Doch im näheren Kontakt könne man erfahren, dass viele Menschen von existenziellen Ängsten bedrängt seien – jene zum Beispiel, die durch die Schliessung grosser ausländischer Firmen ihren Job verloren haben und nun eine neue berufliche Stelle suchen. Die persönlichen Sanktionen gegen die verwöhnten Eliten des Regimes seien zwar im Volk ziemlich populär. Doch wer als gewöhnlicher Bürger fürchten müsse, seine Arbeit zu verlieren oder diese schon verloren habe, reagiere darauf anders – mit Hass und Abneigung gegen den «selbstgerechten Westen». Also ganz im Sinne Putins.
Im Grunde, argumentiert Walter Denz, handle der russische Durchschnittsbürger durchaus rational, wenn er sich den vom Kreml diktierten politischen Grenzen und Sprachregelungen anpasse und Putins Krieg gegen die Ukraine nicht öffentlich hinterfrage. Nicht jeder sei schliesslich zum Helden geboren und bereit, die hohen Risiken eines aktiven Widerstandes auf sich zu nehmen. Und schon gar nicht hat ein gewöhnlicher Russe die Chance, wie der schweizerisch-russische Doppelbürger und Sprachschul-Unternehmer Denz, seine in St. Petersburg eingewurzelte Familie verhältnismässig problemlos in die Schweiz zu bringen und sein Geschäftsmodell im benachbarten Baltikum weiter zu betreiben.