Auch in Indien beginnt in diesen Tagen die Lockerung des verordneten Corona-Stillstands. Sie gleicht allerdings mehr dem riskanten Spiel einer Öffnung trotz steigender Opferzahlen, wie es in den USA abläuft. Der einzige Unterschied liegt darin, dass Narendra Modis Lockdown mehr Menschen aus ihren Behausungen vertrieb, als er einsperrte.
Tante-Emma-Läden
Eine Wirtschaftszweig, der seine Rollläden nie herunterliess, besteht in den schätzungsweise 3,8 Millionen Tante-Emma-Läden, die hier als „Kirana Stores“ firmieren. Ohne sie lässt sich der indische Alltag kaum vorstellen, und sie sind eine der wenigen Konstanten in dieser aufwühlenden Zeit. Sie sind Nahrungsquelle, Schwatzecke und Klagemauer, sie laden Handys auf und wechseln Geld (schwarz natürlich). Und natürlich sind sie in normalen Zeiten – gefühlte – 24 Stunden offen.
Auf engstem Raum stapeln sie oft mehrere tausend Produkte. Ist eines nicht auf Lager, kann es innert Stunden besorgt werden. Es kann vorkommen, dass der Kaufwunsch eines Kunden laut nach oben, Richtung Decke weitergegeben wird. Minuten später fällt der gewünschte Artikel plötzlich aus einer Deckenöffnung herunter, wird vom Bania aufgefangen und über die Theke gereicht.
Auch in der gegenwärtigen Krise stellen Kiranas besonders in ländlichen Gebieten sicher, dass die Grundversorgung unter Einhaltung der Distanzvorschriften einigermassen gesichert werden kann. Die von den Behörden verordnete Praxis, die sich laut Medienberichten eingespielt hat, sieht etwa so aus: Ladenbesitzer holen innerhalb eines engen Zeitfensters bei einer zentralen Verteilstelle die rationierten Lebensmittel ab – Reis, Salz, Linsen, Milch, Öl, Zündhölzer und anderes. Später am Tag öffnen dann die Läden für zwei Stunden und bedienen die Nachbarschaft.
Es ist noch nicht lange her, da wurden die Kirana Dukaans bereits abgeschrieben. Eingeklemmt zwischen den raumgekühlten Super-Stores und den Shopping-Portals in jeder Wohnstube, würde ihnen, so die düstere Prophezeiung, rasch der Atem ausgehen. Zu chaotisch und ungepflegt, zu geräusch- und geruchsvoll.
Kämpfende Giganten
Amazon machte sich breit, bedrängt von seinem lokalen Rivalen Flipkart, der vor zwei Jahren für mehrere Dollar-Milliarden an Walmart verkauft worden war. Jedes zweite Start-up suchte in diesem Markt von einer Milliarde Konsumenten eine Nische, mit Gratis-Hauslieferung am gleichen Tag, für Nudeln und Zahnpasta, Thali und Pizza, Möbel und Putzequipe.
Nach mehreren Jahren Strampeln macht sich Ernüchterung breit. Noch immer ist der Anteil der Giganten am Einzelhandel nicht über drei Prozent gestiegen, und dies schliesst die Shopping-Malls ein, die schon vor der Pandemie leer waren.
Walmart war einer der ersten Spieler, der auf die Kirana-Stores aufmerksam wurde. Statt sich nur auf den digitalen Warenfluss direkt zum Endverbraucher zu verlassen, bot er Kiranas eine Allianz als B2B-Partner an: Wir können für dich einkaufen, Lager halten, in den Laden liefern; und dies billiger, sauberer und rascher als die vielen Zwischenhändler.
Amazon ging einen Schritt weiter und lud Kiranas ein, seine Plattform zu nutzen, um ihre Produkte feilzubieten, Lieferungen inbegriffen. Auch Telecom-Firmen besannen sich auf ihre Datenverbindungen mit Telefon-Kunden. Sie würden diese Beziehung nun „monetisieren“, indem sie, wie Amazon, als Verkäufer und Zwischenhändler auftreten.
Die Giganten des globalen Handels und die Telecom-Firmen an den Schaltstellen der Datenströme hatten eingesehen, dass die Knacknuss im digitalen Delivery-Model – die berühmte „letzte Meile“ – vielleicht vom guten alten Kirana-Store gemeistert würde. Nicht nur verfügt er über das lokale Markt-Knowhow, er besitzt auch „emotionales Kapital“ beim Kunden – Respekt, Stallduft, Wärme. Und es ist ein Geschäftsmodell, das über ganz Indien praktisch nach denselben Regeln funktioniert.
Reliance Industries
Nun hat auch der Haifisch im Konsumentenmeer Witterung aufgenommen: die Firma Reliance, genaugenommen Reliance Industries. Der Plural will sagen: Die Firma ist inzwischen so gross, dass man zu ihrer Kennzeichnung leichter die Sektoren nennt, wo sie (noch) nicht tätig ist, in der kommerziellen Luftfahrt etwa, im Automobil- und Strassenbau.
Das Herzstück war bisher die Verarbeitung von Erdöl, mit all ihren vorgelagerten (Exploration und Förderung) und nachgelagerten Produkten (Petrochemie etc.). Doch der Mehrheitsbesitzer Mukesh Ambani ist nicht umsonst zum grössten asiatischen Milliardär aufgestiegen. Auch er hat erkannt, dass das Erdöl von morgen Daten sind – ihre Erzeugung, Übermittlung und Nutzung.
Vor fünf Jahren gründete Ambani eine Telekom-Firma namens Jio. Das Marktumfeld war bereits von Mobilfunk-Anbietern gut abgedeckt. Aber Ambani hatte zwei Vorteile, die er brutal ausbeutete: gute Verbindungen zur Politik und volle Schatullen. Seit 2016 investierte er nahezu vierzig Milliarden in die Jio-Marke und machte sie, mit 380 Millionen Kunden, zum Marktführer (und die Konkurrenz brachte er mit seinen Dumping-Preisen an den Rand des Bankrotts).
Die magischen vier Cs
Doch genau wie er zuvor Erdöl nur als Plattform für mannigfaltige industrielle Anwendungen sah, positionierte er Jio als Ausgangspunkt für ein ganzes Ökosystem von Anwendungen. An den Datenübermittler fügt sich der Datengenerator („Content Provider“): JioTV, JioNews, JioMovies, JioMusic. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass Ambani in jeder Sparte Marktführerschaft anstrebt.
Nach „Carrier“ und „Content“ fehlen von den magischen „vier Cs“ für die Kontrolle des Handels im Digital-Zeitalter nur noch zwei: „Customer“ und „Commerce“. Gemeint ist die Einbindung des Konsumenten als Produzent und Anbieter von Gütern, sei es in Form von digitaler Kommunikation oder von kommerziellen Produkten. Es fehlte also noch „JioMart“.
Ambani hat seinen Einstieg in dieses Geschäftsfeld spät begonnen, unter anderem weil er RelianceCommunications seinem Bruder überlassen hatte. (Die beiden hatten sich im Streit getrennt und spalteten die vom Vater gegründete Firmengruppe auf.) Daher kombinierte er bei Jio von Anfang an generisches Wachstum mit Akquisitionen, seien es Fernsehstationen, Sportklubs, Filmbüchereien und Filmrechte, ebenso wie die Infrastruktur von Kabelnetzen und Übermittlungstürmen.
Hochzeit der Giganten
Und nun holte er zum grossen Schlag aus. Wer verfügt über die weltweit grösste Internet-Plattform für Nutzerkommunikation? Keine Frage: Facebook/Instagram und WhatsApp. Beide gehören dem gleichen Konzern. Und Indien ist der grösste Kunde von Facebook weltweit – auf beiden Kanälen: 280 Millionen Facebook-Nutzer und 340 Millionen Konten auf WhatsApp.
Warum also nicht den dominanten Telefon-Stöpsler mit dem Besitzer der grössten Kunden-Kartei vermählen? Genau dies ist nun geschehen: Vor drei Wochen kündigte Facebook an, dass es zehn Prozent der Aktien von JioMart übernehmen wird, für den stolzen Preis von 5,7 US-Dollar.
Nun fehlte dem Duo Ambani–Zuckerberg nur noch das vierte C: „Commerce“. Und wer anders bietet sich da an als der ... gute alte Kirana-Store? Mit seinen knapp 400 Millionen Mobil-Kunden hat JioMart bereits einen Geschäftskontakt mit Millionen Kunden von Kirana-Läden. Diese sollen nun also gratis ihre Produkte über Facebook vertreiben können, über WhatsApp Bestellungen entgegennehmen und Liefertermine melden. Und dann gibt es da noch Ambanis Ladenkette RelianceRetail, die den Kiranas dasselbe offeriert wie Walmart: Produkte liefern.
Digitale Imperien
Es ist alles fast zu schön, um wahr zu sein. Deshalb vermied man es tunlichst, in der Zeit der Corona-Katastrophe diese Elefantenhochzeit allzu stark bekannt zu machen. Es war auch nicht nötig. Ambani ist bereits der ungekrönte König des Landes, auch wenn die Regierung noch nicht unter RelianceGov firmiert.
Zudem sorgen die Kirana-Läden gerade in der Corona-Zeit für Aufmerksamkeit und Anerkennung, wenn selbst die Regierung auf sie als Kundenbetreuer setzt. Falls jemand die Ankündigung des Deals mitten in einer Pandemie als obszön kritisieren sollte, könnte ein Zyniker darauf antworten: Vielleicht läutet gerade diese Katastrophe das neue Zeitalter digitaler Imperien ein.
Er könnte zudem genüsslich auf die Koinzidenz verweisen, dass die Kunde vom Handschlag zwischen Ambani und Zuckerberg just im Moment über die Ticker lief, als sich eine weitere Nachricht aus den Börsenmärkten verbreitete: Der Preis von Erdöl war unter Null gefallen. Keine Frage also, was das „New Oil“ ist, und wer die neuen Rockefellers.