Das Mögliche ist ungeheuer, schrieb Dürrenmatt. Nichts Reales bedroht uns nachts im Wald; aber wir sehen im Wurzel- und Astwerk das Mögliche: Schemen und Schraten; und hinter den Stämmen könnte uns ein Tier auflauern. Wir haben Angst. Wir wandern über einen Berggrat, links und rechts fallen die Flanken schroff ab. Wir sind gut gesichert durch ein Drahtseil, aber wir haben Angst. Wir könnten abstürzen. Mir gegenüber sitzt ein arabisch aussehender junger Mann im Zug. Er macht einen freundlichen Eindruck und lächelt mich an. Aber ich habe Angst. Könnte das so ein Exemplar des „afroarabischen Sexterroristen“ sein, wie die Pegida-Rampenpolemikerin Festerling den Typus mit taxonomischem Feingefühl bezeichnet hat?
Angstmache mit dem Möglichem
Der Terror ist fürchterlich, nicht ungeheuer. Furcht empfinden wir vor einer akuten Bedrohung, vor etwas, das da ist. Angst empfinden wir vor einer möglichen Bedrohung, vor etwas, das da sein könnte. Furcht bezieht sich auf ein reales Objekt. Angst ist ein unbestimmter, aber deswegen nicht weniger realer psychischer Zustand; sozusagen eine Erregtheit auf der Suche nach ihrem Erreger.
Kierkegaard nannte die Angst die Furcht vor „etwas, das Nichts ist“. Sie hebt ein elementares anthropologisches Faktum hervor: Wir sind partiell indifferent gegenüber der Differenz zwischen Wirklichem und Möglichem. Darin liegt eine nicht zu unterschätzende Gefahr: Mit dem Konjunktiv lässt sich der Mensch manipulieren und indoktrinieren. Mystagogen und Demagogen haben sich dieser wirkungsvollen Waffe immer schon bedient, indem sie uns mit dem, was sein könnte, zu verführen oder zu ängstigen versuchen. Der Konjunktiv ist der Adjutant der Angstmache.
Trends als Vehikel der Angst
Angstbewirtschaftung hat Hochkonjunktur in den Medien. Bereits 2004 fragte der amerikanische Soziologe Barry Glassner – Autor des lesenswerten Buchs „Culture of Fear“ – , warum die Amerikaner in einer der sichersten Zeiten leben und dennoch derart angstbesessen seien. Er sprach von „narrativen Techniken der Angstgeschäftemacherei *.
Eine der wichtigsten ist die Hochstilisierung des isolierten Einzelfalls zum Trend. Das ist heute ja umso gefährlicher, als in den sozialen Medien gewisse singuläre Botschaften beinahe in Sekundenschnelle zu „Ereignissen“ potenziert werden können. Glassner dokumentiert die Taktik anhand der Amokläufe an amerikanischen Schulen. In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre schien es eine Häufung solcher Gewaltakte zu geben. Aber die Diskrepanz zwischen Statistik und öffentlicher Wahrnehmung war eklatant. Tatsächlich sank in dieser Periode die Zahl der Gewalttaten an Schulen.
Angesichts solch sedativer Statistiken begannen die Angstgeschäftemacher, von der „Ruhe vor dem Sturm“ zu schwadronieren (Schlagzeile in Newsweek 1995). Man sprach von „Teenager-Zeitbomben“ und „Kindern ohne Seele“. Ein Kriminologe, der im Fernsehen zu erklären versuchte, dass es sich nicht um einen Trend handle, wurde vom Gastgeber fast verärgert unterbrochen: „Sie sagen, dies seien bloss anomale Ereignisse?“ Ja, Anomalie sei der präzise Terminus, erwiderte der Kriminologe, und er bezeichnete es als schwerwiegenden Fehler, sich unter solchen Anomalien etwas anderes vorzustellen.
Aber genau das taten die Medien: Sie stellten sich etwas anderes vor, nämlich etwas, das sein könnte: einen Trend, eine Welle, eine Epidemie. Ein Reporter sprach von einer „Epidemie anscheinend verderbter adoleszenter Mörder“. Tatsächlich war es eine Epidemie, nämlich jene des verderbten Konjunktivs.
Überwachung mixt Ermittlung und Spionage
Narrative der Angstmache schüren heute eine Tendenz, die man nicht genug ernst nehmen kann: die invasive Überwachung. Mehr denn je scheint es, dass der Rechtsstaat seinen Bürgerinnen und Bürgern ein Dilemma zumutet: öffentliche Sicherheit oder Sicherheit der Privatsphäre, vulgo: Sicherheit oder Freiheit. Man beobachtet dabei ein Verwischen von Grenzen, das Mitursache für eine Angstaufladung unseres Lebens ist.
Zum Beispiel die Grenze zwischen Spionage („intelligence“) und Ermittlung („investigation“): Ermittlung ist retrozipierend, eine Nachforschung, sie untersucht einen Fall, nachdem er geschehen ist. Spionage ist antizipierend, eine „Vorforschung“, sie untersucht einen Fall, bevor er geschehen ist. Ursprünglich war die Spionage beschränkt auf das Ausland. Aber sie findet heute vermehrt im Inland statt, da der Feind sich längst nicht mehr nur „draussen“ herumtreibt.
Und man sucht ihn zu antizipieren, indem man ihn möglichst früh, das heisst bereits anhand seines Alltagsverhaltens „datenfest“ macht. Wie das General Keith Alexander, dem Ex-Chef der NSA, zugeschriebene Bonmot lautet: „Collect it all!“ – Sammle alles, denn es könnte ja sein, dass sich in der Sammlung etwas von Bedeutung verbirgt. Anders gesagt: Fast jede Person ist potenzielles Zielobjekt, weil heute fast jede Person ein Datenprofil aufweist, aus dem man „vorsorglich“ gewisse Verhaltensweisen prognostizieren kann.
Perfides Spiel mit dem Unwahrscheinlichen
Eine Atmosphäre der Angst bauscht vor allem das Unwahrscheinliche auf. Es nistet sich in meiner Wahrnehmung ein wie der graue Star. Die Wahrscheinlichkeit, dass zum Beispiel mein arabisch aussehender Nachbar ein Terrorist ist, kann als verschwindend klein angesehen werden, aber nicht als Null. Einer von Zehntausend vielleicht. Ich müsste also schon unter zehntausend Nachbarn leben, damit die Bedingung gegeben wäre, dass das Unwahrscheinliche eintritt. Aber es könnte ja sein, dass...
Und das Perfide des real ausgeübten „zufälligen“ Terrors liegt nun gerade darin, dass mit jedem neuen Schlag dieses verschwindend Kleine zu einer unverhältnismässigen Grösse – eben zum möglichen Terror – anwachsen kann. Er düngt in einer verängstigten Öffentlichkeit den Nährboden für das Verdächtige, Spekulative, ja, auch Wahnhafte.
Das Riskante am Denken in Wahrscheinlichkeiten ist ja gerade, dass es nicht bloss mit dem rechnet, was geschieht, sondern auch mit dem, was nicht geschieht, aber geschehen könnte. Die Angst schafft sozusagen einen Möglichkeitsraum, in dem das Potenzielle fast das gleiche Gewicht erhält wie das Aktuelle. Der Brandherd ist bereits der Grossbrand – das ideale Treibhaus für Knüllergeilheit.
Der Angsttypus in der Arbeitswelt
Ungewissheit bedeutet: Vieles ist möglich. Ungewissheit prägt auch das Arbeitsleben. Ich habe (noch) einen festen Job. Aber in der herrschenden Wirtschaftslage ist es jederzeit möglich, dass ich diesen Job verliere. Mit dem erweiterten Spektrum an Möglichkeiten des Jobbens korrespondiert das erweiterte Spektrum der Ängste. Es begleitet mich sozusagen als permanentes Hintergrundrauschen der Besorgnis, auch wenn kein konkreter Anlass zur Besorgnis besteht.
Der Soziologe Heinz Bude beschreibt den heutigen Karrieristen der Mittelschicht denn auch als „aussengeleiteten“ Angsttypus. Er hat, wie der Gratwanderer, einen ausgeprägten Sinn für das Abstürzen. Die Mittelschicht, zwischen ganz oben und ganz unten, weiss vielleicht am besten, dass Auf- und Abstieg letztlich Stochastik sind, sich einer Reihe von Zufällen verdanken. Diese Zufälle – das Mögliche – könnten uns auch auf der erreichten sozialen Höhe treffen. Leicht könnte also der Karrierist zum Verlierer, Betrogenen, Abgeschlagenen werden.
„Der Trick mit den Optionen,“ schreibt Bude, „besteht darin, dass sie nicht an sich richtig oder falsch sind, sondern immer nur bezogen auf die Lösung eines Problems. Weil man aber die Probleme, die sich stellen, nicht vorhersehen kann, muss man möglichst viele Möglichkeiten parat halten, auf die man im Zweifelsfall zurückgreifen könnte.“ ** Der Angsttypus der Mittelschicht ist eine psychisch absturzgefährdete Existenz, die bei der ständigen Ausschau nach möglichem Leben das wirkliche Leben verpasst.
Blasen-Ökonomie
Das sind natürlich Epiphänomene des eigentlichen Hintergrunddramas: des entfesselten globalen Finanzkapitalismus. Nichts wird so sehr vom Konjunktiv beherrscht wie er. Man handelt nicht mit dem, was man hat, sondern mit dem, was man haben könnte. Ein ganzes, von der materiellen Güterproduktion abgekoppeltes Paralleluniversum ist entstanden, in dem Windeier des Möglichen ausgebrütet werde: Optionen, Renditen, Risiken, Versprechen, Versprechen von Versprechen.
Am deutlichsten demonstriert dies der Bedeutungswandel des Risikobegriffs. Bezeichnete Risiko ursprünglich die Ungewissheit über die Zukunft, so wird dank neuer mathematischer und statistischer Instrumente diese Ungewissheit nun quantifizierbar und kalkulierbar. Sie wird zum Handelsgut. Zum riskanten Handelsgut, muss man sagen. Denn das Mögliche bildet hier – wie die Rede geht – eine Blasen-Ökonomie, in der die Wenigen ihre exorbitanten Gewinne einstreichen und die Vielen auf der Strecke bleiben, ohne eigentlich genau zu wissen, was und wie ihnen mitgespielt worden ist.
Techniken der Herrschaft
Das Mögliche muss nicht ungeheuer sein. Eigentlich wäre der Möglichkeitssinn der edelste Sinn des Menschen. Er befähigt ihn zu höchsten kreativen Leistungen. Das hat Robert Musil wie kein anderer erkannt: „Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen (...); sondern er erfindet: Hier könnte (...) geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. So liesse sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist. Man sieht, dass die Folgen solcher schöpferischen Anlage bemerkenswert sein können.“
In der Tat: Das Mögliche könnte, wenn nicht zur Angstmache pervertiert, etwas Wunderbares sein. Es könnte uns zu Visionen beflügeln. Zum Beispiel Visionen von einer Wirtschaftsform, welche die Kluft zwischen Gewinnern und Verlieren nicht ständig verbreitert; von einer Arbeitswelt, in welcher der Mensch nicht zum Anhängsel des Automaten mutiert und der Arbeitslose eine Perspektive hat; von einem Zusammenleben der Kulturen, das nicht vom Spaltpilz des Extremismus vergiftet ist.
Es könnte sein, dass wir nicht nur wachsamer werden gegenüber möglichen Terroristen, sondern auch gegenüber realen Angstgeschäftemachern. Ihre narrativen Techniken zersetzen die res publica. Zeit, ihnen die Deutungshoheit zu entreissen und sie als das zu entlarven, was sie immer schon waren: Techniken der Herrschaft.
* Barry Glassner: Narrative Techniques of Fear Mongering, Social Research, 71, No.4, 2004, p.819-826.
** Heinz Bude: Generation Null Fehler, DIE ZEIT, 19.9.2014, http://www.zeit.de/2014/37/lebensstil-zivilgesellschaft-generation/komplettansicht