Eine reife Frau mit einem reifen Mann beim Liebesspiel im Bett. Es knistert. Weil nichts gekünstelt, übertrieben oder effekthascherisch aufgebauscht wirkt. Weil in jedem Moment der intensiven Szene Vertrautheit spürbar wird. Weil klar ist, dass dieses Paar weiss, warum es sich miteinander wie vergnügt – körperlich und mental. Und das nicht erst seit gestern.
Die eindringliche Szene ist kurz nach Beginn des beeindruckenden Spielfilm-Debüts des Schweizer Filmeschaffenden Christian Johannes Koch zu sehen. «Spagat» erzählt von einer schwer geprüften Liebe, ist eine komplex gebaute, doch nie sperrig überfrachtete Beziehungsstory. Angesiedelt in der Jetztzeit, in einem ländlichen, mittelständischen, vermeintlich unspektakulären Schweizer Kleinstadt-Milieu.
Nach dem Liebesakt verlässt die Frau die Wohnung, fährt mit dem Auto weg, parkiert irgendwo. Sie wechselt einige Kleidungsstücke, richtet sich das Haar, legt Parfüm auf, schminkt sich. Bald erscheint sie in einer festlich dekorierten Turnhalle, wo sich Erwachsene und Jugendliche zu einer Jazz-Dance-Show treffen. Ein Buffet ist aufgebaut. Sie ist, das sieht man sofort, eine Respektsperson: Marina Lang, Oberstufenlehrerin, im Lehrkörper ebenso geschätzt wie von ihren Schülerinnen und Schülern.
Später begrüsst Frau Lang sehr förmlich Herrn Kondakow, den hageren, radebrechend deutschsprechenden Vater einer ihrer Schülerinnen. Er ist unübersehbar ihr Liebespartner aus der geschilderten Eingangsszene. Jetzt ist klar, da ist was im Busch.
Marinas Geheimnis
Marina Lang, Mitte vierzig, ist seit zwanzig Jahren im Schuldienst tätig. Eine Persönlichkeit mit einer dominanten Ader. Mit Jörg, ihrem Ehe- und Hausmann, bewohnt sie ein Bauernhaus etwas ausserhalb. Die gemeinsame Tochter Selma ist ein pubertierender Teenager und besucht dieselbe Schule, an der die Mama lehrt. Zu ihr hat die forsche Selma ein labiles Verhältnis: Mal sucht sie Schutz, mal findet sie Marina «voll peinlich». Gut, dass der Papa auf Pikett ist. Er schlichtet, wenn seine Frauen wieder mal über Kreuz sind.
In «Spagat» weiss das Publikum bald, was Sache ist. Zum Beispiel, dass Marina einen Geliebten hat, den sie als «Mein Geheimnis» bezeichnet. Und ein fast perfektes Doppelleben führt. Wissend, dass ihre Liaison mit dem Vater einer Schülerin für sie als Pädagogin eigentlich ein No-Go ist. Kommt dazu, dass ihr Geliebter Artem ukrainischer Migrant ist, der seit sechs Jahren mit der Tochter Ulyana in der Schweiz lebt; die Kindsmutter gilt als verstorben. Das Problem: Artem hat keine Aufenthaltsbewilligung, ist einer von geschätzten 300’000 Sans-Papiers, die hierzulande in einer Art Parallelwelt leben. Wo es unklug ist, irgendwie behördlich aufzufallen, weil das verheerende Folgen haben könnte.
Sozialpolitische Handlungsebenen
Ulyana hat das Recht auf Schulbesuch, sie mag Frau Langs Unterricht, spricht gutes Deutsch, ist eine ehrgeizige Gymnastiksportlerin mit Chancen auf eine Karriere. Vater Artem kümmert sich um das Mädchen, so gut es geht. Er krampft für viel zu wenig Lohn in einer Kiesgrube, das Geld ist knapp, für einen Versicherungsschutz, wie er jedem «legalen» Arbeitnehmer zusteht, fühlt sich der Boss nicht zuständig. Immerhin überlässt er Vater und Tochter eine Blockwohnung als Unterkunft.
«Spagat» hat eine aktuelle, brisante sozial- und gesellschaftspolitische Handlungsebene. Im Film wird sie plausibel und knapp skizziert. Doch im Kern bleibt «Spagat» ein atmosphärisch dichtes Beziehungsdrama, das sich mit dem befasst, was ein «Aussenseiter-Status» mit betroffenen Menschen (und ihrem Umfeld) machen kann. Vor allem dann, wenn die Fassade der Scheinidylle Risse bekommt. Sei es aus Eigen- oder Fremdverschulden oder – wie in «Spagat» – aus einer fatalen Mischung aus allem.
Denn was sich mit Artems und Marinas Affäre früh andeutet, wächst sich im engen Gesellschaftsumfeld bald zu einem Ereigniswirbel aus, der an das sogenannte «Murphy’s Law» erinnert: Was schief gehen kann, geht schief.
Kopfhörer, Ränkespiele, eine Unterschrift
So löst ein Designer-Kopfhörer, den eine Schülerin aus Marinas Klasse vermisst, eine bedrohliche Kettenreaktion aus. Gerüchte über Diebstahl machen die Runde, es kommt zu Verdächtigungen, Eltern beschweren sich. Frau Lang versucht zu beschwichtigen, weil solche Vorkommnisse zum Courant normal an einer Schule mit Adoleszenten gehören. Bald benötigt Ulyana eine elterliche Unterschrift für die Teilnahme an einem Sportwettkampf. Der Vater verweigert das: Auffallen geht für ihn nicht! Die frustrierte Tochter will das nicht hinnehmen, es gibt Stress.
Als Artem dann ärztlicher Hilfe bedarf, sogar ins Spital muss, spitzt sich die Lage zu: Ohne den erwähnten Versicherungsschutz fehlt dafür das Geld. Zwar hilft Marina aus, aber damit entstehen neue Abhängigkeiten, wird Argwohn geweckt. Nicht nur bei Marinas Partner Jörg, auch bei den Töchtern: Sie ahnen, dass da einiges aus dem Ruder läuft, setzen alle Tricks und Ränkespiele ein, um ihren Willen durchzusetzen – ohne mangels Erfahrung die Konsequenzen einschätzen zu können.
Homogene, starke Besetzung
Bald gibt es viele Konflikt-Baustellen in «Spagat». Dass dies plausibel bleibt, ist auch der homogenen, stark aufspielenden Besetzung geschuldet: Als Marina Lang brilliert die Zürcherin Rachel Braunschweig (*1968). Sie kommt vom Theater, ist durch Auftritte in Kino- und Fernsehfilmen einem breiten Publikum vertraut und populär: 2017 erhielt sie den Schweizer Filmpreis als beste Nebendarstellerin in «Die Göttliche Ordnung», 2019 setzte sie im Historiendrama «Zwingli» in einer Nebenrolle Akzente.
Nun sieht man sie endlich in einer komplexen Hauptrolle. In «Spagat» bekommt sie den Raum, um ihr enormes Ausdruckspotenzial mit Verve abzurufen. Als selbstbestimmte, mutige Frau, die sich vor der Kamera dem Publikum mit Grandezza öffnet, bis in intimste Bereiche hinein. Ohne einen schalen Voyeurismus zu bedienen, weil immer bestrebt und fähig, den schillernd-zwiespältigen Marina-Part mit Passion auszuformen.
Braunschweig wagt mit dem 1964 geborenen Russen Alexey Serebryakow (ein Akteur von internationalem Rang) als Artem einen pulsierenden Pas de deux. Es geht um eine geprüfte Liebe, um zwei, die der Zufall zusammenbringt, die ohne viele Fragen aufeinander abfahren und auch im immer toxischer werdenden Umfeld nicht voneinander lassen können und wollen.
Der dritte im Bund ist Michael Neuenschwander (*1962). Man kennt ihn vom Zürcher Neumarkt Theater, vom Theater Basel, von den Münchner Kammerspielen und aus vielen Film- und im Fernsehproduktionen. Als betrogener Ehemann Jörg gelingt ihm das Sichtbarmachen einer verstörenden Verlorenheit. So wie es nur ein Könner vermag, der auch kleine wichtige Rollen zu adeln versteht.
Bleiben die Mädchen: Nach einem besonderen Casting wurde die zur Drehzeit 16-jährige Masha Demiri engagiert, die russisch spricht und aktive Kunstturnerin ist. Als Selma sehen wir die etwas ältere Zürcherin Nellie Hächler, die ein explizites Flair für Tanz und Theater hat. Beide überzeugen im Spiel miteinander wie im Kontext mit ihren erfahrenen Partnerinnen und Partnern.
Kontemplative Ambiance
Dass die Qualitäten von «Spagat» in Sachen Besetzung augenfällig sind, lässt auf einen intakten Team-Spirit schliessen. Regie führt Christian Johannes Koch (*1986). Er stammt aus dem Luzernischen und schloss nach Studien in Genf und Leipzig (Fotografie) an der Filmuniversität Babelsberg im Fach Filmregie ab. Koch hat zusammen mit Josa Sesink auch das Skript geschrieben, in dem eine Vielzahl von sich überlagernden und bedingenden Handlungs-Vignetten stimmig integriert sind. Und dank eines frappierenden Timings zu einem authentischen Ganzen werden.
Zudem gelingt das Kunststück, den immer wieder stichflammenartig auflodernden Konflikt metaphorisch aufzulösen und einzuordnen. Angetan ist man auch von der eleganten Bildgestaltung von Timon Schäppi und der Montage von Jamin Benazzouz: Der Blick verweilt oft länger und ruhig auf den Protagonistinnen und Protagonisten, wodurch eine Ambiance erzeugt wird, der etwas Kontemplatives anhaftet – auch im Verbund mit der fein akzentuierenden Musik von Peter Scherer.
Kochs Credo
Und wohin geht die Reise in «Spagat»? Das bewegte Drama kippt ins Tragische. Spätestens, als Ulyana in einem Laden wegen eines Diebstahlverdachts festgehalten und der Vater herbeizitiert wird. Da sich die Sache aus formellen Gründen nicht gütlich regeln lässt, eskaliert die Lage vollends; ohne Behörden und Polizei geht es nicht mehr.
Autor und Regisseur Christian Johannes Koch hat sein moralisch-ethisches «Spagat»-Credo in Frageform aufgesetzt: «Bis zu welchem Punkt ist man jemandem zu Treue verpflichtet? Inwiefern kann die Loyalität gegenüber den eigenen Überzeugungen mit der Loyalität gegenüber der Gesellschaft oder sogar dem Gesetz kollidieren? Und wie entscheidet man sich, wenn man vor die Wahl gestellt ist zwischen dem Gesetz und dem, was man als gerecht empfindet?»
Koch hat schlüssige Antworten gesucht, einige gefunden und dramaturgisch geschickt eingewoben. Davon profitiert das Publikums: Es steht nicht überfordert schutz- und ratlos da, wie die Figuren im Film, die einem mitsamt ihren Verhaltensfehlern, charakterlichen Defiziten und Seelenschmerzen garantiert ans Herz wachsen.
Marinas «Rettungs-Spagat»
Final zieht Filmautor Koch nochmals seine Trumpfkarte, Marina Lang. Obwohl emotional am Anschlag, von Schuldgefühlen gegenüber ihren Liebsten versehrt, existenziell gefährdet, denkt sie sich einen waghalsigen, raffinierten, unerwarteten «Rettungs-Spagat» aus, indem sie unauffällige Plot-Puzzlesteinchen, die man schon fast vergessen hat, kombinatorisch zusammenfügt. Was der Schauspielerin Rachel Braunschweig noch einmal Gelegenheit eröffnet, alles zu zeigen, was in ihrer «Mutter Courage»-Rolle steckt.
«Spagat» ist ein wertiger, energiegeladener, erstaunlicher Erstlingsfilm. Weil es gelingt, Geschlechter- und Altersgrenzen übergreifend auf mehreren Handlungsebenen individuelle Wirklichkeitswahrnehmungen an der aktuellen Realität zu spiegeln.