Das Resultat der Wahlen in der Türkei hat deutlich gemacht, dass die meisten Türkinnen und Türken für die demagogischen Methoden von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan nicht empfänglich sind. Erdoğan hatte versucht, eine Position zu erlangen, die ihn zum „Sultan“ der Türkei erhoben hätte.
Seine Partei, die AKP, hat 69 Parlamentssitze verloren. Seit den Wahlen von 2011 hatte sie 327 inne gehabt, nun sind es 258 der insgesamt 550 Abgeordneten. Zum ersten Mal seit 13 Jahren verfügt Erdoğans Partei nicht mehr über die absolute Mehrheit im türkischen Parlament.
Keine weiteren Vollmachten
Erdoğan und seine AKP hatten gehofft, mindestens 330 Sitze zu erobern - oder noch besser 367. Im ersten Fall wäre er in der Lage gewesen, eine Verfassungsänderung vorzuschlagen und sie durch ein Plebiszit absegnen zu lassen. Im zweiten Fall hätte er direkt die Verfassung durch einen Mehrheitsbeschluss seiner Partei
abändern können.
Die geplante Verfassungsänderung hätte dazu gedient, Erdoğan weitere exekutive und legislative Vollmachten zuzuschanzen. Dies wird nun nicht geschehen. Nach der bestehenden Verfassung sollte der Staatspräsident – also Erdoğan - eigentlich eine neutrale und weitgehend repräsentative Stellung einnehmen.
Die Kurden im Parlament
Der politische Erdrutsch kam zustande, weil die Kurdenpartei HDP (Demokratische Volkspartei) die 10 Prozent-Hürde übersprungen hat. Diese hielt bisher die Kurden davon ab, mit einer eigenen Partei ins Parlament einzuziehen. Nun haben sie mit 12,5 Prozent der Stimmen 79 Parlamentssitze gewonnen. Ihr Wahlerfolg kam zustande, weil die HDP unter der erfolgreichen Führung von Selahettin Demirtasch nicht nur die Kurden, sondern auch die türkische Linke ansprach und so die
Stimmen von Gruppen und Grüppchen erhielt (Frauenrechtlerinnen,
Homosexuelle, Jugend- und Linksgruppen aller Art), die unter allen
Umständen vermeiden wollten, dass Erdoğan zum Sultan werde.
Der Erfolg der Kurden hat auch dazu geführt, dass die grösste bisherige Oppositionspartei CHP, die bisher über 135 Sitze verfügte, drei Sitze verloren hat. Der Vormarsch der Kurden hat aber auf der andern Seite auch anti-kurdische Kräfte mobilisiert. Die nationalistische und kurdenfeindliche MHP hat 28 Sitze gewonnen und kommt jetzt auf 81 Abgeordnete.
Welche Koalition?
Wie geht es weiter? Die Parteichefs haben 45 Tage, um eine regierungsfähige Koalition zu bilden. Sie sind jedoch bitter verfeindet, primär weil Erdoğans Wirken und Auftreten in den letzten Jahren zunehmend polarisierend gewirkt hat. Alle vier Parteien haben
bereits erklärt, sie seien für eine Koalition nicht zu haben.
Natürlich kann sich das noch ändern. Am ehesten wäre wohl noch eine
Kombination AKP (258 Sitze) und MHP (81) vorstellbar. Damit wurde die Türkei stark nach rechts rutschen - mit einer ebenfalls starken Linksopposition. Doch die Positionen von AKP und MHP liegen in Bezug auf die politische Stellung des Islams weit auseinander.
Neuwahlen?
Eine Koalition der Mitte zwischen AKP und CHP dürfte nicht möglich sein, weil die CHP (die Partei Atatürks) den Laizismus als Grundprinzip hat, Erdoğan aber den Islam.
Denkbar ist auch, dass Erdoğan jede Koaltion ablehnt und nach 45 Tagen Neuwahlen ansetzt.
Koalitionen haben in der Vergangenheit der Türkei wenig gutes gebracht. In den 70er und in den 90er Jahren führten sie zu
Instabilität und zu wirtschaftlichen und sozialen Krisen, die in
Staatsstreichen der Armee endeten.
So ist nun alles möglich. Der Wind der Veränderung bläst. Wird er Gutes bringen oder Stürme auslösen?