Am 3. November hatten im amerikanischen Südstaat Georgia die beiden republikanischen Senatoren ihre Wiederwahl knapp verpasst. Doch nur wenige zweifelten daran, dass ihnen ein Sieg an diesem 5. Januar gelingen würde. Die Meinungsforscher sahen die beiden klar in Führung.
Doch jetzt, kurz vor der Stichwahl, ist alles gar nicht mehr so sicher. Fest steht: Die Republikaner, vor einigen Wochen noch als Favoriten gehandelt, sind höchst nervös.
Beide Lager haben sich einen der schmutzigsten Wahlkämpfe geliefert – Mobbing und Morddrohungen inklusive, ebenso Hetze und Verleumdungen. Viele getrauen sich nur noch mit Bodyguards auf die Strasse.
Höchste nationale Bedeutung
Die Senatswahlen in Georgia sind nicht einfach Senatswahlen in irgendeinem Bundesstaat: Sie haben höchste nationale Bedeutung. Sie können die amerikanische Politik entscheidend prägen – zumindest für zwei Jahre. Dann stehen in den USA weitere Senatswahlen an.
Es geht um viel: Erhält Biden freie Hand, um zu regieren – oder erhalten die Republikaner die Mittel, Bidens Politik zu torpedieren und eine jahrelange Obstruktionspolitik zu führen?
Unterstrichen wird die Bedeutung der Wahlen in Georgia durch letzte Auftritte vom bisherigen und vom neuen Präsidenten. Biden wird am Montag, am Vortag der Wahlen, in Atlanta eine Abschlussveranstaltung leiten. Trump wird am gleichen Tag in Dalton, im Norden Georgias, eine Wutrede gegen die Demokraten halten. Und vor allem wird er vor grölenden Zuschauern einmal mehr behaupten, ihm sei die Präsidentschaftswahl gestohlen worden. Schon am 6. Dezember war er mit seiner Frau Melania im Städtchen Valdosta im Süden Georgias aufgetreten.
52:48 oder 50:50?
Die Ausgangslage ist bekannt: Die Republikaner verfügen im 100 Sitze zählenden Senat bisher über eine 50:48-Mehrheit. Nicht gezählt sind die beiden jetzt in Georgia zur Wahl stehenden Sitze, die bisher von Republikanern gehalten werden.
Wenn die Republikaner nur einen dieser zwei Sitze verteidigen können, behalten sie die Mehrheit (51:49) und können damit Biden das Leben schwer machen.
Verlieren jedoch die Republikaner beide Sitze, werden die Demokraten den Senat dominieren. Es steht dann 50:50. Die Verfassung sieht vor, dass bei Stimmengleichheit der Vizepräsident oder die Vizepräsidentin den Stichentscheid gibt. In diesem Fall wäre dies die neugewählte Kamala Harris.
Die Demokraten müssen also unbedingt beide Sitze gewinnen, damit Biden frei regieren kann. Das wird schwierig, ist aber nicht aussichtslos.
Reiche republikanische Kandidaten
Die Republikaner gehen mit ihren beiden bisherigen Senatoren ins Rennen: Mit dem 71-jährigen David Perdue, einem steinreichen Unternehmer. Er befindet sich wegen eines Corona-Kontakts zurzeit in Quarantäne. Es ist deshalb nicht sicher, ob er am Montag zusammen mit Trump in Dalton auftreten kann.
Neben Perdue kämpft die bisherige 50-jährige Senatorin Kelly Loeffler um ihre Wiederwahl. Ihr Sitz ist gefährdeter als jener von Perdue.
Loeffler strickt die Geschichte eines bescheidenen Bauernmädchens, das den amerikanischen Traum verwirklichte und zur erfolgreichen Finanzmanagerin wurde. In Wirklichkeit stammt sie aus einer begüterten Farmerfamilie in Illinois, wurde stets von finanzmächtigen Leuten unterstützt und ist längst Multimillionärin. Ihr Mann, Jeffrey Sprecher, ist Vorsitzender der New Yorker Börse, der Wall Street. Ihr zweitgrösster Spender ist Kenneth Griffin, ein Hedgefonds-Gigant.
Bestfinanzierter Senatskandidat
Herausgefordert werden die beiden vom afroamerikanischen Demokraten Rev. Raphael G. Warnock, einem 51-jährigen Baptistenpastor und Schriftsteller. Er wird von Barack Obama und Bill Clinton unterstützt. Kelly Loeffler bezeichnet ihn als „sehr links“ und als „Gefahr für Amerika“.
Zweiter demokratischer Kandidat ist der 33-jährige Jon Ossoff, ein Investigationsjournalist, Dokumentarfilmer und Medienunternehmer.
Die finanziellen Einsätze bei diesen Wahlen sind enorm: Die beiden Demokraten haben alle Fundraising-Rekorde gebrochen. Seit dem 3. November haben sie zusammen über 200 Millionen Dollar an Spendengeldern zusammengetragen – deutlich mehr als die beiden Republikaner. Der Demokrat Ossoff wurde zum bestfinanzierten Senatskandidaten in der Geschichte; er sammelte in zwei Monaten 106,8 Millionen Dollar ein.
Kaum jemand wagt eine Prognose
Seriöse Meinungsumfragen gibt es nicht. Die grossen Umfrage-Institute, die bei den Wahlen am 3. November zum Teil arg versagten und die Republikaner klar unterschätzten, führen in Georgia keine Umfragen durch. Offenbar wollen sie sich nicht die Finger verbrennen. Zudem war der Zeitpunkt für Meinungsforscher ungünstig. An den Weihnachts- und Neujahrfeiertagen wollen Amerikaner und Amerikanerinnen nicht durch Telefonanrufe von Umfrageinstituten gestört werden. Kleinere, wenig glaubwürdige Institute veröffentlichen Umfragedaten, die sich oft klar widersprechen.
Doch auch wenn kaum jemand eine Prognose wagt: Das schliesst nicht aus, dass sich Auguren ihre Überlegungen machen und Fragen stellen. Zum Beispiel: Wie weit war Trumps hässliches, krankhaftes Benehmen der letzten Tage und Woche kontraproduktiv? Erhält der Noch-Präsident jetzt doch noch die Quittung für seine Rüpelhaftigkeit? Trump gibt sich immer mehr als tragische Gestalt, die jede Contenance verliert. Wie viele gemässigte Republikaner springen jetzt ab und sagen: „So dann doch nicht!“?
Die Bastion bröckelt
Trump erschreckt und attackiert immer mehr die eigenen Leute: seine einstigen Supporter. Am Mittwoch forderte er auf Twitter den Rücktritt von Gouverneur Brian Kemp, einem überzeugten Konservativen und Trump-Anhänger. Er hatte es abgelehnt, Schritte zu unternehmen, um das Wahlergebnis des Staates umzustossen. Auch Brad Raffensperger, der republikanische „Innenminister“ von Georgia, wurde von Trump hart verunglimpft.
Und: Welchen Einfluss hat der immer grotesker werdende Streit innerhalb der Grand Old Party auf die Wahlen in Georgia? Am Neujahrstag haben erstmals – nach vierjähriger fast ungebrochener Loyalität – republikanische Senatoren gegen Trump gestimmt und sein Veto gegen das Verteidigungsgesetz abgeschmettert. Für die erregten Trump-Anhänger ist dies ein Desaster. Die Bastion bröckelt. Wie wirkt sich dies in Georgia aus? Niemand weiss es.
Das Trump-Lager sendet verwirrende Signale aus. Einmal verlangt Lin Wood, der verschwörungsstarke Anwalt Trumps, einen Wahlboykott der Republikaner, weil die Wahlen ja sowieso gefälscht würden. Ein andermal ruft Trump dazu auf, in Scharen zu wählen. Am Freitag wiederholte der Präsident, dass die Wahlen am 3. November in Georgia manipuliert worden seien. Die jetzige Stichwahl sei „illegal und ungültig“. Das könnte einige Republikaner davon abhalten, an „illegalen“ Wahlen teilzunehmen – zur Freude der Demokraten.
Meinungstest für den „Trumpismus“
Und die Corona-Pandemie? Georgia ist stark davon betroffen. 650’000 Menschen wurden bisher infiziert, 11’000 starben. Trump ignoriert das; er spielt Golf.
Die beiden republikanischen Kandidaten hatten sich kurz nach Trumps Niederlage sachte von ihrem Präsidenten distanziert; in jüngster Zeiten stehen sie wieder Stein-und-Bein-fest hinter ihm. Ist das klug? Kelly Loeffler sagt in einem Werbespot: „Ich bin die einzige Senatorin, die zu hundert Prozent Trumps Vorhaben unterstützt hat.“ Helfen oder schaden ihr solche Statements? Kann man noch Wahlen gewinnen, wenn man sich mit Trump verbündet?
Die Wahlen im Südwest-Staat Georgia gelten immer mehr als Stimmungstest für die Republikaner. Und als Stimmungstest für den „Trumpismus“.
Sehr hohe Wahlbeteiligung
Die Demographie in Georgia hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Das hat wohl wesentlich zum hauchdünnen Sieg von Joe Biden beigetragen. In Atlanta, der Hauptstadt des Staates, leben jetzt über 50 Prozent Schwarze. Der Gliedstaat ist zu einem Hightech- und Startup-Zentrum geworden. Auch Medienunternehmen, nicht nur CNN, haben sich dort niedergelassen. Die Zahl der jungen weissen Einwohner mit College-Abschluss wächst, ebenso jene der Schwarzen, der Latinos und der Asiaten. Sie alle tendieren eher zu den Demokraten als zu den Republikanern. Vor allem in den Vororten von Atlanta, wo viele junge Weisse leben, hatte Biden klar mehr Stimmen gemacht als Hillary Clinton vor vier Jahren.
Nervös sind die Republikaner vor allem wegen der Wahlbeteiligung. Erste Zahlen deuten darauf hin, dass in Georgia noch nie so viele Menschen gewählt haben. Bereits haben weit über drei Millionen Wählerinnen und Wähler ihre Stimme abgegeben. Bedeutet das, dass Trumps Gegner massenweise wählen gehen, weil sie eine echte Chance wittern, ihm eine Niederlage zu bereiten? Hat der hauchdünne Sieg Bidens den Demokraten Mut und Auftrieb gegeben? Es war das erste Mal seit 28 Jahren, dass in dem Südstaat ein Demokrat die Präsidentschaftswahl gewann.
Oder bedeutet die hohe Wahlbeteiligung, dass die Trump-Anhänger jetzt erst recht wählen, um die Blamage bei den Präsidentschaftswahlen wenigstens teilweise gutzumachen? Niemand weiss es.
Hunderttausende Messages
Sicher ist: Vor allem die Demokraten mobilisieren. TikTok-Accounts laufen heiss. Über Zoom werden vor allem junge Wählerinnen und Wähler mobilisiert. Hunderttausende SMS wurden verschickt. Die Demokraten haben ein riesiges Heer von „Zoomern“ engagiert. Spezialisten aus anderen Staaten sind gekommen, um den Demokraten bei ihrer Kampagne zu helfen. Auch das „Sunrise Movement“, eine mitgliederstarke, progressive junge Klimabewegung mischt kräftig mit. Reicht das, um den Demokraten den Sieg zu bringen?
Die Republikaner argumentieren, es gehe bei den Wahlen um nichts Geringeres als „die letzte Verteidigungslinie gegen den Sozialismus und Marxismus zu halten“. Trump bezeichnet die Demokraten immer wieder als Marxisten, die den Bürgern die Freiheit rauben wollten. Den Kampf um die zwei Senatssitze verglich der Republikaner David Perdue mit dem Zweiten Weltkrieg. Ob solche Argumentationen genügen, um zu gewinnen, wird sich zeigen.
Sicher ist nur: es wird knapp
Das demokratische Lager hatte beim ersten Wahlgang der Senatswahlen am 3. November in Georgia insgesamt etwa 60’000 Stimmen weniger gemacht als das republikanische Lager. Die Demokraten müssen also Zehntausende zusätzliche Stimmen auftreiben. Keine leichte Aufgabe. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder können die Demokraten bisherige Trump-Wähler ins eigene Lager ziehen. Oder: Die Demokraten sprechen zusätzliche, vor allem junge und teils schwarze und asiatische Wähler an. Ob das gelingt, wird man sehen. Wichtig wird vor allem die Wahlbeteiligung sein.
Vor knapp zwei Monaten schien einem Triumph der beiden Republikaner nichts im Wege zu stehen. Jetzt ist alles offen. Sicher ist nur: es wird sehr knapp werden.
Und was geschieht, wenn die beiden Demokraten knapp gewinnen? Dann wird Trump das Ergebnis wohl als Wahlbetrug bezeichnen, Nachzählungen verlangen und vor den Supreme Court gehen.
Quellen: New York Times, CNN, Washington Post, The Atlantic, Associated Press