Man mag an den Vereinigten Staaten vieles eindrücklich, grossartig und vorbildlich finden – aber die meisten europäischen Beobachter sind sich darin einig, dass die Aussenpolitik nicht zu den Stärken dieses Landes gehört. Amerika ruht souverän in sich selbst, es hat den Rat anderer nicht nötig, und in seine Rolle als Weltmacht ist es erst im Ersten Weltkrieg durch europäische Konflikte hineingezogen worden.
Seine Präsidenten und führenden Politiker verfügen selten über Auslanderfahrung, und sie suchen ihr Ansehen nicht auf dem Feld der Aussen-, sondern der Innenpolitik zu gewinnen. Die amerikanischen Diplomaten verdanken ihre Posten nicht selten parteipolitischer Protektion oder der Wahlhilfe, die sie geleistet haben. Die Militärs entwickeln eine Neigung zuzuschlagen, ohne die politischen Folgen ihres Handelns zu bedenken.
Profunder Europa- und Russlandkenner
Bei alldem bezweifelt niemand, dass die Vereinigten Staaten über ausgezeichnete Experten verfügen, über Professoren und Journalisten, die mit fremden Ländern und fremder Mentalität vertraut sind. Aber nicht immer finden die Einsichten dieser Experten den Weg zu den Spitzenpolitikern, die zu entscheiden und zu handeln haben.
Zur Überprüfung dieses Urteils gibt es keine bessere Lektüre als die der Memoiren, die der amerikanische Diplomat George F. Kennan verfasst hat (dt. 1968, Memoiren eines Diplomaten: 1925-1950). Kennan wurde 1904 in Milwaukee, Wisconsin, geboren, und er starb, über hundert Jahre alt, in Princeton. Er sei ein introvertierter Jüngling gewesen, schreibt er in seinen Erinnerungen, frei von Hochmut wie von sozialem Ressentiment und von „leidlich klarem und offenem Verstand“.
Erfahrungen in Berlin und Moskau
Nach Studienjahren in Princeton bewarb sich Kennan für den Auswärtigen Dienst, ging nach Washington und trat in die Foreign Service School ein. Im Jahre 1929 immatrikulierte er sich für das Studium von Geschichte, Politik und russischer Sprache an der Universität Berlin und erlebte Glanz und Elend der deutschen Hauptstadt in den Jahren vor Hitler. Dann wurde Kennan an die amerikanische Gesandtschaft in Riga versetzt. Als die USA im Jahre 1933 diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion aufnahmen, folgte Kennan dem ersten amerikanischen Botschafter nach Moskau.
Die amerikanisch-russischen Beziehungen waren gespannt und wenig erspriesslich; aber Kennan war dank seiner Kenntnis des Russischen gut informiert, und die Brutalität und Perfidie der stalinistischen Säuberungen zwischen 1937 bis 1938 entgingen ihm nicht. Sein Interesse ging weit über die beruflichen Verpflichtungen hinaus. „Als Objekt der Neugierde“, schreibt er in seinen Memoiren, „hat das Land niemals seinen Reiz verloren, und im Rückblick sind mir diese Jahre vor allem darum wertvoll, weil sie mich Russland immer besser verstehen lehrten.“
Mit dem Kommunismus dagegen konnte er nichts anfangen: „Die Ideologie“, schreibt er, „machte mich nur ärgerlich. Für mich war sie eine Pseudowissenschaft voller erfundener Helden; und so sehr ich an den sowjetischen Führern den Mut, die Entschlossenheit und den politischen Ernst bewunderte, sosehr empfand ich Ekel für die anderen Seiten ihrer politischen Persönlichkeit: ihren zur Schau getragenen Hass und ihre Verwerfung grosser Gruppen von Menschen, ihre endlosen Grausamkeiten, ihren Anspruch auf Unfehlbarkeit, ihren Opportunismus und die Gewissenlosigkeit ihrer Methoden...“
"Dieser Koloss ist nicht hohl"
Bei Kriegsausbruch wurde Kennan an die amerikanische Botschaft in Berlin versetzt. Über die Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, täuschte er sich nicht: „Dieser Koloss ist nicht hohl;“, schrieb er damals in einem Bericht, „herausfordernd steht er jetzt vor Franzosen und Briten, geeint und diszipliniert, im Besitz einer in der Geschichte unerhörten Zerstörungskraft...“ Nach Hitlers Kriegserklärung an die USA Ende 1941 wurde das amerikanische Botschaftspersonal interniert und gelangte über Lissabon nach New York.
Gegen Kriegsende wurde Kennan als Gesandter nach Moskau entsandt. Er wurde Zeuge davon, wie Stalin seinen Machtbereich zielstrebig nach Mitteleuropa ausweitete, wie das Kriegsbündnis zwischen den westlichen Alliierten und der Sowjetunion sich auflöste und die Weltpolitik in die Phase des Kalten Krieges eintrat. Enttäuscht stellte er fest, dass das amerikanische Aussenministerium diesen Vorgängen mit teilnahmsloser Naivität gegenüberstand, sich durch die russischen Lippenbekenntnisse zu Demokratie und Gerechtigkeit täuschen und zu Konzessionen gegenüber einem Regime verleiten liess, das solche Nachsicht nicht verdiente.
Das lange Telegramm aus Moskau
„Was ich im Sommer 1944 sah“, schreibt er in den Memoiren, „war ausreichend, um mich davon zu überzeugen, dass nicht nur unsere Russlandpolitik, sondern auch alle unsere Pläne für die Gestaltung der Nachkriegswelt und die von uns eingegangenen Verbindlichkeiten auf einer gefährlichen Fehleinschätzung der sowjetischen Führer, ihrer Absichten und ihrer politischen Situation beruhten.“
Seinem Unmut über die verfehlte amerikanische Politik gab Kennan auf ungewöhnliche Weise Ausdruck. Er sandte 1946 ein langes Telegramm nach Washington, in dem er, von seinen persönlichen Erfahrungen ausgehend, Grundsätze einer amerikanischen Russlandpolitik entwarf. Er betonte, dass die Sowjetunion keine militärische Bedrohung darstelle, weil man in Moskau damit rechne, dass der Kapitalismus in absehbarer Zeit ohnehin an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehe. Russland bemühe sich allerdings, den Westen zu destabilisieren, etwa durch die Unterstützung ausländischer kommunistischer Parteien oder durch ideologische Propaganda in wirtschaftlich und sozial rückständigen Ländern.
Die inneren Widersprüche der Sowjetunion
Angesichts dieser Sachlage sei es für die freie Welt wichtig, den Glauben an die humanen und politischen Werte der Demokratie zu stärken und die wirtschaftliche Prosperität zu fördern, um keine Angriffsflächen zu bieten. „Viel hängt von der Gesundheit und Kraft unserer eigenen Gesellschaft ab“, hiess es im Telegramm. Und weiter: „Der Weltkommunismus ist wie ein bösartiger Parasit, der sich nur von erkranktem Gewebe nährt. Das ist der Punkt, in dem Aussenpolitik und Innenpolitik einander begegnen. Jede mutige und entscheidende Massnahme zur Lösung der inneren Probleme unserer eigenen Gesellschaft, zur Hebung von Selbstvertrauen, Disziplin, Moral und Gemeinsinn in unserem Volk ist ein diplomatischer Sieg über Moskau.“
In einem Aufsatz, den Kennan in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs unter dem rasch durchschauten Pseudonym „Mr. X.“ erscheinen liess, erläuterte der Autor seine im Telegramm dargelegten Ansichten. Selten hat ein politischer Text im 20. Jahrhundert grösseres Aufsehen erregt. Wiederum sprach Kennan von Massnahmen zur Stabilisierung der freien Welt und wies darauf hin, dass der Stalinismus nicht ewig währe und dass der Sowjetstaat an seinen inneren Problemen scheitern werde.
Eindämmung - politisch verstanden
Um die Haltung, die es den sowjetischen Expansionsgelüsten gegenüber einzunehmen gelte, zu bezeichnen, verwendete er das Wort „Eindämmung“ (containment). Dieses Wort wurde in der Folge, wo immer man vom Kalten Krieg sprach, zu einem Schlüsselbegriff. Während John F. Kennan „Eindämmung“ im Sinn einer politischen und intellektuellen Verteidigung der Werte westlicher Kultur verstand, gaben amerikanische Hardliner dem Terminus eine militärische Stossrichtung – eine Haltung, welche zur unseligen Verstrickung der USA in den Vietnamkrieg führte.
Kennan hingegen blieb immer davon überzeugt, dass man die Kommunisten nicht durch Waffengewalt, sondern durch die Überlegenheit der eigenen Gesellschaftsordnung besiegen würde. „Haltet ihnen stand“, schreibt er, „energisch aber nicht aggressiv, und lasst die Zeit für euch arbeiten. Mehr als das war mit dem X-Artikel nicht gemeint.“
In Moskau persona nun grata
Die weiteren Stationen in Kennans langem Leben seien hier nur kurz gestreift. Als Mitglied eines Planungsstabes war er 1947 entscheidend am Plan des Aussenministers Marshall zum wirtschaftlichen Wiederaufbau des kriegsgeschädigten Europa beteiligt – eine Politik, die seiner Vorstellung von „Eindämmung“ entsprach. Mit Sorge beobachtete Kennan die Verschärfung des amerikanisch-russischen Gegensatzes im Gefolge der Berlin-Blockade (1948). Im Jahre 1951 zum Botschafter in Moskau ernannt, gab er sich Rechenschaft von der Abkühlung der amerikanisch-russischen Beziehungen. Zur Persona non grata erklärt, kehrte er bereits 1952 nach den USA zurück.
Noch einmal stand er in diplomatischen Diensten, als ihn Präsident Kennedy 1961 zum Botschafter in Belgrad ernannte. Die Unabhängigkeit des Denkens und die Unbestechlichkeit seiner Analysen machten Kennan bald zum Aussenseiter im diplomatischen Betrieb, und man warf ihm vor, er kenne sich in Russland besser aus als zuhause. Wenn er kein Amt bekleidete, zog er sich an die Universität Princeton zurück, hielt viel beachtete Vorträge und schrieb wichtige Bücher zur Geschichte der amerikanisch-russischen Beziehungen.
Aussenseiter in Washington
Als scharfsichtiger und unbequemer Kommentator der Zeitereignisse stellte er sich wiederholt in Gegensatz zur offiziellen Aussenpolitik. Er wandte sich gegen das atomare Wettrüsten, übte Kritik an der NATO und an der Wiederbewaffnung Deutschlands, wurde zum entschiedenen Gegner der Kriege in Vietnam und im Irak. Er warf der Aussenpolitik seines Landes vor, dass sie sich an realitätsfernen idealistischen Zielsetzungen orientiere und damit Gefahr laufe, der nüchternen Machtpolitik der Sowjets zu unterliegen. Kennans temperamentvolle Urteile mögen da und dort irrig sein; in seiner Überzeugung jedoch, dass das kommunistische System auf Dauer nicht lebensfähig sei, hat ihm die Geschichte noch zu seinen Lebzeiten Recht gegeben.
George F. Kennans Memoiren sind auch heute noch, unter ganz veränderten weltpolitischen Verhältnissen, spannend zu lesen. Der Autor formuliert hervorragend und macht den Leser auf sehr persönliche Weise mit der Aussenpolitik einer Weltmacht bekannt. Die Tagebuchaufzeichnungen, die er seinen Memoiren beifügt und die Analysen, die er im Anhang abdrucken lässt, zeigen, dass ihn ein echtes Interesse an Russland motivierte und nicht die Absicht, die Erwartung eines Vorgesetzten zu erfüllen oder eine politische Doktrin zu bestätigen.
Selten freilich wurden die Einsichten, die er an der diplomatischen Front gewann, in Washington wahrgenommen. Er sei deswegen nicht zum Zyniker geworden, schreibt Kennan am Schluss seiner Memoiren in einer kritischen Bilanz: „Ich habe auch, selbst wenn ich einzelne Elemente unserer Politik scharf ablehnen musste, niemals bezweifelt, dass wir auf dem Feld der internationalen Politik eine Kraft sein konnten und sollten, die das Gute fördert.“