Der Gegensatz liesse sich kaum grösser denken: Die Publikation mit dem Titel „Etwas fehlt“, die anlässlich der Ausstellung des 1955 geborenen Alex Hanimanns im Kunstmuseum St. Gallen erschien, ist opulent und enthält über 3000 Abbildungen, durchwegs kleinformatige Fotografien alltäglichen Zuschnitts, eine Art Lebensprotokoll des Künstlers. Er sucht sich in der Unzahl von Fotografien die sichtbare Welt anzueignen und präsentiert sich gleichzeitig mit dieser Materialablage als besessener Archivar.
Die Ausstellung „Same but Different“ dagegen wirkt karg und fast asketisch. Die rund zwei Dutzend Exponate sind mit Präzision und hoher Sensibilität für Abläufe und Bilddramaturgie so in die sechs klassischen Museumsräume hinein komponiert, dass sich die Werke – Skulptur, Installation, Fotografie, Video – in Ruhe entfalten können. Den Besucherinnen und Besuchern bleiben Zeit und Musse, sich auf Hanimanns Konzepte einzulassen und das eigene Wahrnehmungsvermögen zu testen.
Irritationen
„Same but Different“, der Ausstellungstitel, ist zugleich der Titel eines neuen Werks Hanimanns. Es ist insofern für das ganze Unternehmen signifikant, als es wie eine Aufforderung wirkt, misstrauisch und genau hinzusehen, den eigenen Seh-Vorgang zu hinterfragen: Stimmt, was ich zu sehen glaube, mit dem überein, was wirklich ist? Zu sehen sind vier zum Block gefügte ältere Portraitfotos Hanimanns. Viermal das gleiche Bild? Es braucht einige Zeit, bis man sich der Unterschiede bewusst wird: Zwei Bilder sind seitenverkehrt, doch welche Version ist die richtige? Gleich oder nicht gleich? Wir können die Fragen nicht beantworten.
Im grossen Mittelsaal des Museums finden wir uns inmitten von sechs menschlichen Figuren aus mattem Aluminium. „Conversation Piece“ lautet der Titel der Gruppe. Es sind bis in jedes Haar, bis in jede Falte der Kleidung präzise realistisch abgebildete junge Menschen, denen wir auf jeder Strasse begegnen könnten. Sie sind mit sich beschäftigt, ruhen sich aus, spielen mit dem Handy oder blicken entspannt in die Weite. Kontakte unter den sechs scheint es nicht zu geben. Gleich und doch nicht gleich: Wir sind irritiert, denn Hanimann bricht den Realismus. Die Figuren sind um acht Prozent vergrössert. Bild und Wirklichkeit sind nicht deckungsgleich. Auch legt sich der matte Schimmer des Aluminiums wie ein Schleier über die Präzision des Abbildes.
Im Buch „Etwas fehlt“ finden sich viele Fotos von jungen Menschen in verschiedenen Posen. Die Verbindung zu „Conversation Piece“ ist offensichtlich: Hanimanns Skulpturenarbeit ist eine vertiefende Weiterführung seiner Fotoarbeit. Ähnlich geht der Künstler vor, wenn er sich dokumentarischer Fotos aus den 1970er-Jahren annimmt, die wir als Ikonen damaligen Zeitgefühls wahrnehmen. Nun ist es nicht die Vielzahl der Aufnahmen, sondern die Konzentration auf zwei Bilder. Sie zeigen Tanzende der Bhagvan-Szene, Menschen auf der Suche nach indisch-esoterischer Gesellschafts-Utopie.
Hanimann präsentiert sie allein in einem Raum an zwei gegenüberliegenden Wänden, ins Riesenhafte vergrössert, in Leuchtkästen wie Kultobjekte der Erinnerung an eine Zeit, in der auch Hanimann selber nach jugendlichem Aufbrechen in Neuland suchen mochte. Doch er baut sogleich Störmanöver ein – sehr direkt im ins Negative gekippten Bild, erst nach genauem Hinsehen erkennbar im zweiten Bild, in dem Hanimann wie Fremdkörper zwei helle Lichter aufleuchten lässt. Auch den Erinnerungen ist nicht zu trauen.
Zeit und Bewegung
Die Fotografie ist eingefrorene Zeit. Sie hält fest, was sich in stetem Fliessen der Bilder unserer Wahrnehmung entzieht. Das gilt auch von den „fotorealistischen“ Skulpturen des „Conversation Piece“. Auch sie wirken wie eingefrorene Zeit. Diesen statischen und klar gesetzten Bild-Installationen setzt Alex Hanimann das bewegte Bild entgegen. Er zog mit dem Fahrrad seine Kreise durch einen Park im Osten Londons und filmte mit dem Handy, was er sah – die immer gleichen Pavillons und Bäume und Menschen: Sind es immer wieder die gleichen oder andere Leute? Haben sie sich fortbewegt? Nur schwer halten wir die sich überlagernden Eindrücke auseinander.
Anders im rund 30-minütigen Film „Bethnal Green“. Wir blicken aus stets gleicher Perspektive auf eine von Bäumen gesäumte Rasenlandschaft. Hin und wieder gehen Menschen vorbei. Dazu erklingt sanfte, melancholische Cellomusik. Als Scharen von Kindern und Jugendlichen einer muslimischen Schule – ausnahmslos Buben – auf den Platz strömen und ihr Pausenspiel treiben, wird diese Cello-Musik überdeckt vom entspannten Gelächter und Geplauder und vom spielerischen Lärmen der Jugendlichen. Mit ihrem klassenweisen Abmarsch in die Schule verebben diese Geräusche und geben wieder der Ruhe von vorhin Raum. Wir nehmen den gleichen Park völlig anders wahr: „Same but Different“.
Spiegel am Anfang und am Ende
Das alles könnte einfach anmuten. Zu einfach? Kaum: Hanimann, der sich in anderen Ausstellungsprojekten ganz anders gab, richtet hier den Fokus – und da schlägt vielleicht seine Tätigkeit als Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste durch – auf eine einzige Fragestellung. Sie zielt auf Wesentliches, was die Wahrnehmung der Wirklichkeit und unsere geforderte Skepsis gegenüber dieser Wahrnehmung betrifft. Der Künstler formuliert die Fragestellung in „Same but Different“ klar und gradlinig, doch auch mit Werken von hoher sinnlicher Qualität. Sie schlagen die Besucherinnen und Besucher dank Überzeugungskraft im Formalen des einzelnen Werkes und dank der Geschlossenheit der ganzen Präsentation unmittelbar in ihren Bann.
Kommt hinzu, dass Alex Hanimann die Besucher geradezu umfängt: Beim Treppenhaus, das zur Ausstellung hinaufführt, leuchtet die Neon-Schrift „I am your mirror“, die auf einen Song von Lou Reed Bezug nimmt. Am Ende sieht man sich tatsächlich in einer verspiegelten Wand – allerdings, und auch das ist wohl als Zeichen zu verstehen, wegen der nicht ganz glatten und leicht matten Spiegelfläche nicht ganz klar und scharf.
„Etwas fehlt“
Ein Letztes: Wie steht es um den nebulösen Titel von Alex Hanimanns Fotobuch „Ewas fehlt“? Der Künstler sagt im für dieses Buch geführten Gespräch mit Hans Ulrich Obrist, der Verleger Patrick Frey habe „Etwas fehlt“ als Arbeitstitel des Projektes gewählt. Obrist dazu: „Das ist ja auch ein Ausspruch, den der Philosoph Ernst Bloch verwendet hat. Er schrieb viel über Utopie und auch über das Prinzip Hoffnung. Da gibt es eine Anekdote: Theodor Adorno, der dem Begriff Utopie schon deshalb skeptisch gegenüberstand, weil Bloch ihn dauernd benutzte, fragte diesen: Was ist denn eigentlich die Definition von Utopie? Worauf Bloch antwortete: Etwas fehlt.“ Bloch weiter, was Obrist nicht mehr erwähnt: „Denn, wie Brecht sagt, ‚etwas fehlt‘, was das ist, weiss man nicht … Etwas fehlt, einer der tiefsten Sätze von Brecht.“ Der Nebel lichtet sich kaum.
Kunstmuseum St. Gallen, bis 1. September; Publikation „Etwas fehlt“, erschienen in der Edition Patrick Frey, 524 Seiten mit rund 3000 Abbildungen, 83 Franken