In Tunesien und in Ägypten ist der Volksaufstand erfolgreich gewesen. Doch in Tunesien ist inzwischen deutlich geworden, wie schwierig die Einführung eines echten demokratischen Systems noch zu werden verspricht, obgleich höchstwahrscheinlich in den provisorisch regierenden Kreisen ein Wille, dies zu erreichen, vorhanden ist.
Die Bevölkerung wird umgeduldig
In Ägypten ist zwar Mubarak zum Rücktritt gezwungen worden, doch die Armee hat die Macht übernommen. Sie verspricht Schritte auf ein demokratisches Regime hin zu tun. Doch weiss niemand wirklich, was sie unter einem demokratischen System versteht, das bisherige unter Mubarak, das sich auch demokratisch nannte und das sie 30 Jahre lang stützte, weil sie von ihm mitprofitierte - oder ein neues, das der Bevölkerung echte Mitspracherechte einräumt?
Die Bevölkerung in beiden Ländern wird ungeduldig. Dies zeigt sich in Streiks, die überall ausbrechen, verständlicher- aber doch schädlicherweise. Die Streikaktionen in Tunesien und in Ägypten sind verständlich, weil die nun abgesetzten Machthaber in beiden Ländern stillschweigend dafür sorgten, dass die Arbeiter und Angestellten trotz der Teuerungen kaum Lohnerhöhungen erhielten. Sie setzten ihre “Sicherheitskräfte” nicht nur für die Sicherheit des Regimes sondern auch dafür ein, dass die Reallöhne eher sanken als stiegen.
Dies war für sie ein bequemes Mittel, um ihre Wirtschaft anzukurbeln und ihre Günstlinge reich werden zu lassen, gerade weil es auf Kosten der Lohnempfänger ging.Die Polizeischranken formeller und informeller Natur, welche bisher mithalfen, die Löhne niederzuhalten sind gefallen. Plötzlich stehen fast alle Lohnempfänger auf, niemand mehr hindert sie daran, und fordern die Lohnverbesserungen, die in ihrer Sicht der Dinge schon seit Jahren überfällig gewesen sind.
Doch dies bedeutet einen plötzlichen Schlag für die gesamte Wirtschaft der neu befreiten Staaten, deren gesamtes Wirtschaftsleben bisher weitgehend auf den niedrigen Löhnen beruhte. Nur gerade diese hatten sie auf dem Weltmarkt einigermassen konkurrenzfähig erhalten.
Dilemma der Übergangsregierungen
Die provisorischen Übergangsregierungen in beiden Staaten stehen vor einer schwierigen Wahl: entweder sie geben den berechtigten Forderungen der nun vokal gewordenen Angestellten und Arbeiter nach und riskieren hohe Verschuldung und auf mittlere Frist den Staatsbankrott. Oder sie suchen die Streikenden zu beruhigen und niederzuhalten, wobei sie auf die Dauer schwerlich auf die alten Methoden verzichten können, die bisher angewandt worden waren - im wesentlichen Polizeirepression.
Diese zweite Alternative ist heute gefährlich, weil sie unvermeidlich zu Ausbrüchen von neuen Demonstrationen und Unruhen führt. In Kairo ist es bereits die Polizei selbst gewesen, die demonstriete. Die Polizisten sehen sich selbst ebenfalls als Opfer des früheren Regimes an, und sie waren in der Tat ebenfalls schlecht bezahlt.
Auch abgesehen von der Frage der Löhne ist die Ungeduld der Bevölkerung, die nun nach ihrem “Sieg” rasch ein besseres Leben erwartet, verständlich aber unrealistisch. Eine realistische Einschätzung der ¨benötigten Übergangszeit zu einem funktionierenden demokratischen System, wenn alles glatt und ohne schwerwiegende Hindernisse abliefe, wäre eher ein Jahr als die sechs Monate, von denen gegenwärtig die Rede ist.
Dann aber wäre nur ein neues politisches System eingerichtet. Bis dieses die erhofften wirtschaftlichen Verbesserungen bringt, welche viele der demonstrierenden Massen schon heute erwarten, kann es weitere Jahre dauern. Dass solche Verbesserungen überhaupt zustande kommen, ist zu erhoffen, aber keineswegs garantiert. Es gibt sehr viele Variablen, die eine Wirtschaftsentwicklung beeinflussen können, sogar wenn sie unter günstigen politischen Rahmenbedingungen abläuft.
Institutionen des alten Systems bestehen weiter
Die ebenfalls geforderte Meinungsfreiheit und Absicherung der Menschenrechte scheinen auf den ersten Blick rascher erreichbar als wirtschaftlicher Wohlstand. Die Informationsmöglichkeiten sind in der Tat sehr viel freier geworden. Doch die Aufhebung des Ausnahmezustandes, welcher bisher den Rahmen für die Einschränkungen der Gedankenfreiheit und der Menschenrechte abgegeben hatte, ist in Ägypten nur versprochen, keineswegs durchgeführt. Auch auch in Tunesien funktioniert die neue freiere Information de facto ausserhalb des formal fortbestehenden und bisher gültigen legalen Rahmens.
Was die Menschenrechte angeht, benötigen sie Rechtssicherheit um praktisch umgesetzt zu werden. Die Richter aber und die Gerichte gehören ebenfalls zum alten System. Reformarbeit am Rechtswesen wäre dringend, ist aber mit Sicherheit eine langfristige Aufgabe.
Realistisch betrachtet ist es unter diesen Umständen nochkeineswegs sicher, dass ein demokratisches Regierungssystem wirklich erreicht werden kann. Die gegenwärtigen Anlaufschwierigkeiten sind so bedeutend, dass in Tunesien der amtierende Staatschef und frühere Parlamentsprecher Ben Alis, Fouad Mebazaa, ausserdordentliche Befugnisse erhielt, Gesetze zu erlassen. Er gebrauchte sie in einem ersten Schritt, um eine Teilmobilisierung der Armeereserven anzuordnen.
Wobei berücksichtigt werden muss, dass die tunesische Armee eine recht kleine Zahl von Soldaten aufweist. Weil sie aber heute, viel mehr als die Polizei, auf die sich Ben Ali in erster Linie abstützte, das eigentliche Rückgrat des in einem wirren Umbau befindlichen Staates darstellt, benötigt sie mehr Mannschaften. Ihr Generalstabschef Rachid Ammar, der als der Mann gilt, der Ben Ali zur Flucht und zum Abtreten zwang, ist heute schon eine der prominentesten Persönlichkeiten des politischen Lebens.
Wer schreibt die neue Verfassung in Ägypten?
In Ägypten ist die Armee selbst an der Macht. Zur Zeit sagen ihre Sprecher aus, der politische Umbau komme. Sie haben unter anderem erklärt, eine Revision der bestehenden Verfassung sei in Arbeit und werde in 10 Tagen abgeschlossen sein. Das Volk werde Gelegenheit erhalten, über sie abzustimmen. Doch wer diese Revision durchführt, ist unbekannt. In welchem Sinne sie vorgenommen und wie weit der Umbau gehen wird, wurde nicht erklärt. Schon die Zehntagefrist scheint anzudeuten, dass keine tiefen Eingriffe geplant sind. Ähnlich unbestimmt und daher fragwürdig sind die meisten Versprechen der herrschenden Offiziere.
Die Gefahr ist gross, dass die um sich greifenden Streiks und andere Volksunruhen, die Offiziere über kurz oder lang erneut zu dem zwingen könnten, was ihnen bisher durch ihre langen Karrieren hindurch regelmässig als wichtigste Handlungsweise gedient hat: Gewaltanwendung zu Regierungszwecken.