Fast alle Kunden der Raiffeisen, und nicht nur dieser «systemrelevanten» Bank, haben einen gewaltigen Wissensvorsprung. Denn sie können ohne gross nachzudenken eine einfache, aber nicht unwichtige Frage beantworten: wie viel eigene Mittel sie haben. Ist ja eigentlich auch keine Quantenphysik.
Einfache Rechnung
Der typische Raiffeisenkunde, nennen wir ihn Muggli, würde sich nach Schweizer Wesensart zwar etwas zieren, das öffentlich bekannt zu geben. Aber um die banale Frage zu beantworten, wie viel Geld hast du?, muss er nur einen Kassensturz machen. Alles, was auf seinen Konten liegt, plus seine übrigen irdischen Besitztümer zum Verkehrswert, minus seine Schulden wie Hypotheken oder Kredite, voilà. Dazu muss niemand an der HSG einen Black Belt in Accounting machen oder das eidgenössische Buchhalterdiplom, pardon, den Eidgenössischen Fachausweis für Finanz- und Rechnungswesen, besitzen.
Auch wenn Muggli der stolze Besitzer einer kleinen KMU ist, stellt ihn diese Frage nicht vor unüberwindbare Herausforderungen. Wenn er weiss, dass Eigenkapital in der Buchhaltung auf der Passivseite steht und vom Fremdkapital unterschieden werden muss, hat er’s im Griff. Er muss dann höchstens noch die Finanzflussplanung beherrschen, damit er nicht in einem Jahr super aufgestellt ist, aber zwischendurch in sechs Monaten pleite. Oder ganz einfach: Eigentlich jeder Schweizer weiss, wie reich – oder arm – er ist. Bei Firmen, deren Daseinszweck der Handel mit Geld ist, ist das ganz anders.
Schwierige Rechnung
Die Aussage, Bank «Gier & Söhne» habe ein Eigenkapital von 300 Millionen Franken, ist noch nicht sehr erhellend, wenn man die Stabilität der Bank beurteilen will. Also setzt man es in Relation zur Bilanzsumme und spricht von der Eigenkapitalquote. Also wie grosse Räder dreht die Bank. Beträgt die Quote zum Beispiel weltweit übliche 3 Prozent, dann weiss man, dass diese Bank auf ihr mehr als 30 mal grösseres Bilanzrad nur einen Verlust von 3,1 Prozent einfangen muss, und sie ist blank. Die Zockerbank Lehman Brothers, man erinnert sich, hatte zum Beispiel im Moment ihrer Pleite eine Eigenkapitalquote von 11,5 Prozent.
Daraus haben die Banken gelernt. Auf Bankenart natürlich. Ihnen wurden, das sind die Abkommen von Basel, Nummer 1, 2, 2 ½ und 3, Mindestanforderungen von mindestens 7 Prozent, weitergefasst 10 Prozent, nach «Swiss Finish» gar 19 Prozent, auferlegt. Allerdings erst ab 2017 zu erfüllen. Das könnte doch eigentlich Vertrauen schaffen. Wenn das Wörtchen «risikogewichtet» nicht wäre. Also die Banken können ihre Verbindlichkeiten skalieren, und zwar nach einer so überkomplizierten Methode, dass die staatlichen Aufsichtsbehörden damit überfordert sind und diese Berechnung, kein Witz, gleich den Banken selbst überlassen. Risikogewichtet kann sich jede Bank ihre Eigenkapitalquote schönrechnen. Sie nennen das dann auf Banglisch «Leverage Ratio», weil die deutsche Übersetzung Hebelverhältnis zu streng nach Zockerei riecht.
Zahlendschungel
Wie viel Spass und Tollerei in diesem Zahlendschungel möglich ist, mit dem die Banken die Beantwortung der einfachen Frage, wie hoch (oder tief) ist die Eigenkapitalquote, in eine Lotterie verwandelt haben, musste gerade der Finanzblog «Inside Paradeplatz» erfahren. Weil Raiffeisen inzwischen auch für «systemrelevant» erklärt wurde, nahm sich der Autor Lukas Hässig die Zahlen der fünf bilanzstärksten Raiffeisenbanken vor, die Bestandteil des Verbundes von rund 300 Genossenschaftsbanken sind.
Hässig setzte das ausgewiesene Eigenkapital ins Verhältnis zu den Aktiven und kam auf bedenkliche Quoten zwischen 1,1 und 2,5 Prozent. Das brachte ihm kein Lob für die Beherrschung der Grundrechenarten, sondern eine Klagedrohung der Raiffeisenanwälte ein. «Rufschädigung und falsche Tatsachenbehauptungen» werden ihm vorgeworfen, die Leverage Ratios lägen in Wirklichkeit zwei bis vier Mal so hoch. Dabei wird von Raiffeisen nicht mal das Zaubermittel «risikogewichtet» verwendet.
«Inside Paradeplatz» vermutet, dass auch noch «Wertberichtigungen und Rückstellungen sowie Reserven für allgemeine Bankrisiken», allenfalls «stille Reserven» vom Anwalt der Raiffeisengruppe in Anschlag gebracht wurden, um auf höhere Eigenkapitalquoten zu kommen. Wir hüten uns hier, nicht zuletzt aus juristischen Gründen, dazu Stellung zu beziehen, sondern gehen nur der Berichterstatterpflicht nach.
Mach aus einfach kompliziert
Wer schon mal probiert hat, sich durch die Hunderte von Seiten umfassenden Geschäftsberichte moderner Banken zu kämpfen, weiss: die immerhin 1494 eingeführte doppelte Buchhaltung war lange Jahrhunderte eine ausgezeichnete Darstellungsform, um sich anhand von Aktiva und Passiva einen Überblick über den Zustand einer Firma, einer Bank zu verschaffen. Der Erfolg eines Unternehmens konnte durch den Vergleich des Eigenkapitals mit dem Vorjahr und durch die Korrelation der Aufwände und Erträge in der Gewinn- und Verlustrechnung gemessen werden. Eigentlich von jedem Laien.
Heutzutage reicht nicht mal ein Black Belt in Accounting, wenn man einfachste Kernzahlen eruieren will. Bilanzen und Geschäftsberichte haben sich in Beweise für die Heisenbergsche Unschärferelation verwandelt. Eigentlich haben alle Teilchen in diesem Zahlendschungel mindestens zwei komplementäre Eigenschaften, die nicht gleichzeitig genau messbar sind. Die einzig nicht nur juristisch sichere Aussage über eine Bankbilanz ist heutzutage: Kann man so oder so sehen. Und wenn man sich keinen Ärger einhandeln will, sollte man es besser so wie die Bank sehen.