Am 24. September wird in Deutschland ein neuer Bundestag gewählt. Je nach Parteienwahl tragen diejenigen Bürger, die zur Urne gehen, mit zur Entscheidung bei, wer vom Parlament zum Kanzler oder zur Kanzlerin gewählt wird. Nach der Katastrophe der Hitler-Herrschaft haben zuerst die westdeutschen und nach der glückhaften Wiedervereinigung auch die ostdeutschen Wähler insgesamt ein bemerkenswert sicheres Gespür dafür gezeigt, einigermassen solide Regierungen an die Macht zu wählen, die auch im Ausland das Vertrauenskapital in die deutsche Nachkriegspolitik kontinuierlich ausgebaut haben.
Kaum eine andere Episode bringt diese Entwicklung überzeugender zum Ausdruck als eine Stellungnahme des israelischen Schriftstellers Amos Oz im vergangenen Februar zur weltpolitischen Grosswetterlage. Vom „Spiegel“ befragt, wie er auf den Wahlsieg Donald Trumps in den USA reagiert habe, sagte Israels bekanntester Schriftsteller, er habe am Tag nach der Wahl an Angela Merkel geschrieben und erklärt, „dass sie für mich die Führerin der freien Welt“ sei. Und er fügte hinzu: „Erzählen Sie mir nichts von Unumkehrbarkeit.“
Tatsächlich wäre es vor 70 Jahren nach dem totalen Zusammenbruch des Hitler-Reiches und dem Völkermord des Holocaust wohl niemandem in den Sinn gekommen, dem diskreditierten Deutschland in absehbarer Zeit je eine akzeptierte politische Führungsrolle in Europa und der demokratischen Staatenwelt zuzutrauen – schon gar nicht von Seiten einer jüdischen Autorität. So viel zur Berechenbarkeit zukünftiger politischer Entwicklungen.
Man kann diese Erfahrung auch auf andere Länder übertragen. Noch vor einem Jahr hatte innerhalb und ausserhalb Amerikas kaum ein erfahrener Beobachter ernsthaft damit gerechnet, dass ein politisch ungebildetes Grossmaul und New Yorker Baulöwe im November zum Präsidenten des mächtigsten Landes gewählt werden könnte. Auch in Frankreich schien vor einem Jahr die Wahl des Aussenseiters Macrons zum neuen Staatschef nur eine weltfremde Spekulation zu sein. Sie kam zustande, weil erstens unvorhergesehene neue Konstellationen (die Enthüllungen über die Selbstbedienungspraktiken des Favoriten Fillon) eintraten. Und zweitens genügend Wähler sich von der vernünftigen Einsicht leiten liessen, dass es in der Politik fast immer um die Wahl des kleineren Übels geht.
In Russland, wo im kommenden Jahr die Präsidentenwahl fällig wird, scheinen derartige Überraschungen praktisch ausgeschlossen. Zum einen, weil in der russischen Vierteldemokratie manipulative Praktiken seitens der Herrschaft tief eingefleischt sind, und zweitens, weil wohl ein Grossteil derjenigen Bürger, die überhaupt zur Wahl gehen, den Machtmenschen Putin immer noch als das kleinere Übel einschätzen.
Doch in solide verankerten und erprobten Demokratien ist Stimmenthaltung bei der Wahl des politischen Personals eigentlich nie eine glaubwürdige Haltung. Wer eine neue Führung wünscht, wer substanzielle Veränderungen herbeisehnt oder eine Fortsetzung des bisherigen Kurses für richtig hält, dem kann man nur jene kräftigen Worte zurufen, die unlängst in der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“ zu lesen waren: „Geht verdammt noch mal wählen!“