Im Dezember 1927 traf T.E. Lawrence, der legendäre Lawrence von Arabien, mit dem Truppentransporter „Derbyshire“ in Karatschi ein. Offiziell war er zur Maschinenreparaturabteilung der Royal Air Force (RAF) abkommandiert. Dort schien er weit mehr mit der Fertigstellung und Veröffentlichung eines weiteren Buches (nach „Aufstand in der Wüste“ und „Die sieben Säulen der Weisheit“) befasst gewesen zu sein, als mit dem Militärdienst, weshalb seine Biographen diese Episode gerne als „freiwilliges Exil“ bezeichnen. Es gibt jedoch Hinweise, dass er tatsächlich wieder seiner alten Tätigkeit nachging, die ihn schon im Hedschas und in Palästina berühmt gemacht hatte: Aufstände anzuzetteln.
Im Mai wurde er nach Peschawar geschickt, und nur zwei Tage später traf er in Miranschah in Nordwaziristan ein, dem Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan, Heimat der notorisch unregierbaren Paschtunen. Dort, in einem Fort aus Lehm und Ziegeln beschwor er die „unheimliche – ominöse Stille des Ortes“, der als „einzige Versuchungen Langeweile und Müssiggang“ bot, wie er einem Freund in London telegraphierte.
Spion Ihrer Majestät
Die Londoner Evening News jedoch enthüllte am 26. September in vierspaltiger Aufmachung: „Lawrence von Arabiens geheime Mission“. Dem Artikel zufolge trieb er sich verkleidet im Punjab herum und beobachtete „die Aktivitäten bolschewistischer Agenten, deren geheimes Hauptquartier in Amritsar (im indischen Punjab) sein soll.“ Vier Tage später berichtete auch der Sunday Express von „Lawrence‘ geheimer Mission in Afghanistan“. Dort verfasste der Spion Ihrer Majestät, getarnt „unter einer kaffeebraunen Hautfarbe, dem Turban und den Roben, die er so gut kennt“ eine Studie über die politischen Positionen und Neigungen der Bergvölker Afghanistans. Und die russische Prawda kommentierte: „Das Auftauchen von Oberst Lawrence in jedwedem muslimischen Land bedeutet immer eine neue britisch-imperialistische Intrige und Provokation.“
Zwar bestritten London und auch die Behörden des Vizekönigs in Delhi und sogar der Autor seiner autorisierten Biographie (Jeremy Wilson, „Lawrence of Arabia“, Collier Books, New York u.a., 1989) kategorisch, Lawrence sei jemals in Afghanistan gewesen. Doch just zur fraglichen Zeit rebellierten die Paschtunen in Jalalabad und die Tadschiken im Norden gegen König Amanullah Khan. Der hatte 1919 die vollständige Unabhängigkeit von Grossbritannien erreicht, diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zur nur wenige Jahre zuvor geborenen Sowjetunion aufgenommen und eine radikale Reformpolitik eingeleitet, die allen Bürgern seines Landes die Grundrechte einräumte.
„Verkleidet als muslimischer Geistlicher namens Karam Shah hatte (Lawrence) eine üble Propagandakampagne mit dem Ziel organisiert, den religiösen Eifer der reaktionäreren Stämme anzuheizen, und so einen Bürgerkrieg zu provozieren“, schrieb der britisch-pakistanische Historiker und Autor Tariq Ali und ergänzte die abenteuerliche Geschichte noch um ein überraschendes amouröses Detail aus dem Leben des homosexuellen Obersten.
Ein verliebter Agent
Demnach kam der Geheimdienstagent nach Erfüllung seines Auftrags nach Lahore, wo er sich im renommierten Nedou’s Hotel eintrug und Akbar Jehan begegnete, der Tochter des aus Dubrovnik stammenden Hoteliers Michael Henry Nedou und eines kaschmirischen Milchmädchens, Mir Jan. Aufgezogen als fromme Muslimin, hatte die 17jährige Akbar Jehan gerade den Unterricht an der katholischen Schule des Jesus-und-Maria-Konvents in dem Bergressort Murree (heute in der pakistanischen Provinz Punjab) abgeschlossen. (Häufig schickten nicht-christliche Eltern ihre Töchter in diese Klöster, einerseits weil die Ausbildung dort gut war, und andererseits weil das strikte Regime dort Schutz vor irdischen Versuchungen garantierte – wenngleich es Hinweise gibt, dass die Mädchen die meiste Zeit in schwärmerischen Träumereien mit Rudolf Valentino verbrachten.) Der Flirt zwischen dem Offizier und dem Mädchen aber geriet ausser Kontrolle. Vater Nedou bestand auf Eheschliessung, also wurde geheiratet.
Drei Monate später, wurde König Amanullah gestürzt und von einem Briten-freundlicheren Herrscher ersetzt. (Amanullah floh ins italienische und ab 1953 ins Schweizer Exil, wo er im April 1960 starb.) Am 12. Januar 1929 brachte Rudyard Kiplings imperialistische Military Gazette in Lahore zwei vergleichende Portraits von Lawrence sowie Karam Shah, um den Eindruck zu erwecken, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelte. Wenige Wochen später wiederum berichtete die Liberty in Kalkutta, dass Karam Shah tatsächlich der „britische Spion Lawrence“ sei, und veröffentlichte eine ausführliche Darstellung seiner Aktivitäten in Waziristan an der afghanischen Grenze. Lawrence war zu einer Belastung geworden, also beorderten ihn die britischen Behörden zurück nach Grossbritannien.
Eine geschiedene Frau
Nun bestand Nedou auf einer Scheidung. Lawrence gehorchte dem resoluten Schwiegervater erneut, schiffte sich auf dem Passagierdampfer SS Rajputana für die Fahrt nach London ein, und Karam Shah wurde nie wieder gesehen. Vier Jahre später heiratete Akbar Jehan in Srinegar, der heutigen Sommer-Hauptstadt Kaschmirs, in einem weiteren von Nedou’s Hotels Scheich Mohammed Abdullah. Die Tatsache ihrer früheren Ehe und Scheidung war kein Geheimnis: Nur der Name des ersten Mannes wurde geheim gehalten.
Als der indische Subkontinent im August 1947 die Unabhängigkeit erreichte und geteilt wurde, war die Frage der Zukunft des Dogra-Reiches Kaschmir im Norden noch ungeklärt. Pakistan und Indien besetzten und annektierten Teile des Landes. Bis heute ist die Frage nicht endgültig geklärt. 50 Jahre lang lenkte Akbar Jehans Mann, ein politischer Gigant, die Geschicke Kaschmirs und wuchs dabei zum entscheidenden Gegenspieler Lord Mountbattans und Jawaharlal Nehrus heran. Sie kämpften für die Unabhängigkeit und gingen ins Gefängnis, weil sich Kaschmiris „nicht mit Gewalt regieren lassen.“ Doch die indische Regierung bestand darauf, dass der Anschluss Kashmirs „endgültig und vollständig“ sei. Sein Volk gab ihm den Beinamen „Sher-i Kaschmir“ (Löwe von Kaschmir), und Akbar Jehan wurde im Volksmund die „freundliche Mutter".