Sie sind ja so herzig, die Kinder, wenn sie sich selbstvergessen über ein glitzerndes Steinchen am Weg freuen können, nicht weniger, wenn sie in aller Unschuld eine Wahrheit ausplappern, welche die Erwachsenen gern unterm Tisch halten würden. Was daran fasziniert, ist die Natürlichkeit, das Fehlen jener Hemmungen, die den Grossen den Zugang zum eigenen Empfinden erschweren, oft genug sogar verstellen.
Aber ganz ungetrübt ist die Freude an der kindlichen Spontaneität dann doch nicht. Der Spass hört in der Regel auf, sobald die lieben Kleinen negative Emotionen ebenso ungehemmt zum Ausdruck bringen und heulen wie am Spiess, weil sie Hörnli statt der erwarteten Nudeln auf dem Teller vorfinden. Da würde man sich doch wünschen, dass sie etwas mehr Abstand zu ihren Gemütsaufwallungen hätten, eben eine höhere Affektkontrolle. Und Erziehung, ziemlich unabhängig von der pädagogischen Präferenz, zielt darauf ab, ihnen genau das für ihr späteres Leben als Gesellschaftswesen zu vermitteln.
Der Mensch ist das Tier, das sich selbst domestiziert hat. Entsprechend gespalten zeigt sich sein Verhältnis zu sich selber. Die Kultivierung ist wie eine zweite Haut, die ein zivilisiertes Zusammenleben ermöglichen soll. Aber darunter juckt doch immer das alte Fell, die Tiernatur, welche es zu unterdrücken gilt und die genau deshalb zu einem höchst ambivalenten Ding wird: zum Gegenstand der Sehnsucht wie des Schreckens.
Aufklärung und Romantik
Diese Gespaltenheit im menschlichen Selbstverhältnis spiegelt sich in einem geistesgeschichtlichen Doppelgestirn, an dem sich die westliche Kultur über mehr als zwei Jahrhunderte orientiert hat: Auf der einen Seite steht die Aufklärung als ein Programm der Selbstermächtigung, in dem Vernunft die zentrale Rolle spielt. Sie sollte dem Menschen dazu verhelfen, Kontrolle über sich selbst wie über die Naturkräfte zu erlangen. Technisches Wissen sowie ein rationaler politischer Diskurs lösen das Subjekt aus alten Abhängigkeiten und verheissen, dass es sich endlich zum Herrn seines Geschicks aufschwingen könnte.
Genau gegen diesen Anspruch jedoch hat die Romantik opponiert; sie sah darin Anmassung, ja eine Hybris und erinnerte daran, dass der Mensch ein Geschöpf ist, dessen Selbstbestimmung notwendig begrenzt bleibt. Die Romantiker kritisieren die Vergöttlichung der Vernunft und schlagen sich auf die Seite des Unkontrollierbaren. Sie sind fasziniert von der unbezähmten Natur, von inneren wie äusseren Abgründen, von denen ein unwiderstehlicher Sog ausgeht. Der Mensch ist eben gerade nicht Herr seiner selbst, sondern auf vielfältige Weise ausgesetzt: seinen Gefühlen, die ihn oft genug überwältigen, sowie auch der Fragilität und Sterblichkeit seines Körpers.
Die Romantik legt also den Finger auf die Grenzen der Vernunft und denunziert deren Allmachtanspruch als Selbsttäuschung. In ihrer Vorstellung ist der Mensch seinem Wesen nach gerade nicht rational, so dass ihn die forcierte aufgeklärte Nüchternheit seinem Ursprung entfremdet. Den haben sich nur die «guten Wilden» bewahrt, selbstverständlich auch die Kinder, und dorthin gilt es zurückzukehren. Rationalität dagegen, ja nur schon Sachlichkeit ist im romantischen Weltbild assoziiert mit Kälte, ja mit einem Manko an Humanität – eine argumentative Figur, die sich lange erhalten hat, ja durchaus noch Diskurse der Gegenwart bestimmt.
Einspruch des Existenzialismus
In der Tat wurde der Pas de deux zwischen rationalem Weltzugriff und scharfer Vernunftkritik im 20. Jahrhundert weiterhin getanzt. Da gab es zum einen den beispiellosen Triumph von Wissenschaft und Technik, zum anderen die Gegenströmungen, die den romantischen Einspruch erneuerten. Prominent darunter der Existenzialismus, der auf die Alltagskultur der Nachkriegszeit einen beträchtlichen Einfluss ausüben sollte.
Martin Heidegger, der eigentliche Begründer, geht davon aus, dass der Mensch sich zuerst und wesentlich in seiner Gestimmtheit begegnet, so in der Angst und Sorge, die ihn permanent umtreiben. Zu vernünftigen Konstrukten nimmt er Zuflucht, um diese Last von sich abwälzen. Dabei sieht Heidegger die ganze abendländische Denktradition durch einen Vorrang der Ratio charakterisiert, zu dem Sokrates & Co. die Weichen gestellt haben. Genau das gilt ihm als einzige grosse Verfehlung des menschlichen Seins und seiner Wahrheit. Es ist ein Ausweichen vor dessen unvermeidlich leidend-passiver Hinnahme und bildet damit im Rahmen der Existenzialontologie den Sündenfall schlechthin: Statt sich in ihrer «Geworfenheit» – letztlich in ihrer Ohnmacht – anzunehmen, verstecken sich die Menschen hinter der Technik oder in der kalten Konventionalität ihrer Gesellschaft.
Ähnlich wie im romantischen Weltbild ist der vernunftgeleitete Mensch auch nach existenzialistischer Sicht von seinem Ursprung abgefallen. Er verrät sich an ein Allgemeines, um sich nicht selbst ins Gesicht blicken zu müssen. Er ist nämlich getrieben von Stimmungen, Gefühlen, von Fragen auch, über die er keine Macht hat. Das ängstigt ihn, aber dem hat er sich zu stellen, um zu seiner Eigentlichkeit vorzudringen. Dementsprechend entwirft auch der Existenzialismus eine Figur der Rückkehr, worin der Mensch seine irrationale und fremdbestimmte Seite anzunehmen hat. Nur wer diese Volte zu schlagen imstande ist, geht hinter die Verkleidungen zurück, findet wahrhaft zu sich und erlangt damit Authentizität.
Ich fühle, also bin ich
Authentizität bildet den Gegenwurf zur konfektionierten, d. h. opportunistisch angepassten Identität. Sie ist nur durch den Verzicht auf den technischen Weltzugriff zu gewinnen, der zur Denaturierung des Menschen wie seiner Umwelt führt. So steht im Nachgang zum Existenzialismus das Sein primär gegen das Machen. Gefordert ist ein Leben, das von Planung ablässt, um sich ganz dem Augenblick zu öffnen. Im Grunde wird die Denkfigur des Sprungs zum Grundmuster aller Gegenkulturen der Nachkriegszeit: Vernunft ist da grundsätzlich das Falsche; es geht darum, loszulassen und ganz einzutauchen in die Unmittelbarkeit.
Popularisiert haben dieses philosophische Konzept als erste die Beatniks, zu deren Markenzeichen ein Leben «on the road» wurde, eine Existenz also, die sich jenseits der bürgerlichen Standardbiographie zufälligen Anstössen und spontanen Eingebungen überlässt. Der Frage «Was bringt’s?» hat sie ganz abgeschworen. Den Spontis der 68er-Bewegung blieb es dann vorbehalten, daraus ein explizit politisches Programm zu machen, mit dem sie das Establishment provozierten. Und nicht zufällig haben sie die Sexualität ins Zentrum dieser Programmatik gestellt, eine Urkraft, die dazu neigt, die von der Vernunft gezogenen Grenzen über den Haufen zu werfen.
Das romantische Verdikt wirkt somit weiterhin: Authentizität und wahre Menschlichkeit finden sich nur in einem Jenseits der Ratio, in einem Selbstzugang, der sich den «niederen», den «animalischen» Antrieben stellt. Intensives, mitunter rauschhaft gesteigertes Erleben soll die Mauern der Zweckrationalität brechen, hinter denen die bürgerliche Gesellschaft ihre Mitglieder gefangen hält. «Ich fühle, also bin ich.» – So der unausgesprochene Leitsatz, an dem sich auch noch die post-existenzialistischen Gegenkulturen bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts orientieren. Descartes und mit ihm die ganze westliche Denktradition wird auf den Kopf gestellt – oder auf die Füsse, sofern man es aus gegenkultureller Optik betrachten will.
Jenseits von Wahr und Falsch
Die cartesianische Weltsicht war borniert, das ohne Zweifel, aber nicht minder ist es ihre Negation durch einen Gefühlskult, der ausschliesslich die Empfindsamkeit zum Echtheitssiegel erhebt. Der Überhöhung des «Cogito» entspricht jetzt einfach die Abwertung rationaler Argumentation. Der Abstand, den diese voraussetzt, erscheint als Ausdruck einer kalten technokratischen Gesinnung. Man muss drin sein, «betroffen», wie es in den Achtzigern hiess, oder «empört», wie es die Spielregeln der digitalen Medien heute fordern. Dazu gehört auch die Kultivierung permanenter Dringlichkeit: Der Zeiger steht ständig auf fünf nach zwölf, so dass keine Zeit bleibt für eine ruhige analytische Abklärung von Sachverhalten.
Das postmoderne Maskenspiel hat zwar in den Neunzigern das Konzept der Authentizität verabschiedet, aber zugleich auch die Vorstellung, die Welt könne im Rahmen einer transparenten Erzählung erfasst werden. Es ist nicht einmal eine Vernunft übriggeblieben, die leidlich für alle gilt, sondern nur eine launige – und zunehmend übellaunigere – Subjektivität.
Was in der Romantik als Einspruch gegen die Vernunftreligion begann, hat sich verflacht zu einer generalisierten Ablehnung des Allgemeinen, in der sich jeder zum Schmied der eigenen Wahrheit aufwerfen kann. Dabei hat sich die Geste des Protests quer über die westlichen Gesellschaften habitualisiert: In immer mehr Milieus gilt als wahr, was man selbst jetzt gerade so empfindet, als falsch hingegen alles, worüber sich ein – sei’s noch so begrenzter – Konsens etabliert hat. Unter dieser Voraussetzung wird es schwierig, sachbezogene Debatten zu führen.
Verschwörungstheorien oder Paranoia generalis
Kein Wunder, haben derzeit alternative Fakten Konjunktur und gilt als Fake News, was immer einem nicht passt. Das zeigt sich prägnant in der Argumentation der Coronaskeptiker: Wissenschaftliche Befunde zur Pandemie werden als Lüge diffamiert und stattdessen abstruse Verschwörungstheorien bemüht, um die unliebsame Wahrheit wegzuerklären. Hier hat die Aversion gegen Vernunft schlicht zur Abkehr vom Realitätsprinzip geführt. Man verhält sich, als sei die Wirklichkeit ein Wunschkonzert.
Freud hat den Grund für Verfolgungswahn in der Verleugnung verortet. Betroffene sind nie über den infantilen Narzissmus hinausgekommen. Deshalb weigern sie sich anzuerkennen, was ihren Wünschen entgegensteht oder ihren Bildern nicht entspricht. Dabei bildet die Projektion den zentralen Abwehrmechanismus: Paranoiker leiten Impulse nach aussen ab, von denen sie im Innern bedrängt sind, und verschaffen sich dadurch Entlastung. Dieser Strategie dienen auch Verschwörungstheorien. Sie projizieren den ungehemmten Narzissmus ihrer Anhänger auf reale oder eingebildete Mächte und erlauben so die Abfuhr der Wut, die sich über einer erlittenen Enttäuschung aufgebaut hat.
Der Verlust allgemeiner Wahrheitskriterien hat bei vielen zu einer Regression geführt, nämlich zur kindischen Verweigerung, Tatsachen als solche zu akzeptieren. Dass daraus kaum realitätsgerechtes Verhalten resultiert, versteht sich von selbst. Doch die aktuelle Aufregung rund um Corona wird verrauschen, denn die Pandemie dürfte vorübergehen, auch wenn es uns Schnelllebigen lang vorkommen mag. Andere – tiefer gehende – Streitpunkte hingegen werden bleiben und bei fehlendem Vernunftbezug das gesellschaftliche Klima nachhaltig vergiften.
Die Migrationsdebatte
Da wäre einmal die Migrationsdebatte. Sie ist zwar im Moment etwas in den Hintergrund gerückt, aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder aufflammt. Auch hier ist ein gefühlsbetonter Subjektivismus mit Händen zu greifen. Er hat eine höchst fatale Rolle gespielt, weil der Konflikt um die Zuwanderung nicht nur übermässig politische Energie gebunden, sondern auch massiv zur Spaltung der postindustriellen Gesellschaften beigetragen hat. Dabei ist für beide Lager der vorrangige Appell ans Gefühl kennzeichnend und ebenso das Ausblenden von Sachverhalten – zumindest von solchen, die zur eigenen Gemütslage nicht passen.
Rechts geht die Angst um, teils wirtschaftlich motiviert, teils angetrieben vom Schreckbild des kulturellen Identitätsverlusts. Und diese Angst wird von den Befürwortern der Zäune sorgsam kultiviert, indem sie negative Auswirkungen der Zuwanderung medial aufblähen. Zudem bewirtschaften sie eine zweite Stimmungslage, die sich unter den Verlierern in atomisierten Gesellschaften endemisch ausbreitet: die Sehnsucht nach Einbindung, und zwar in eine möglichst homogene Gemeinschaft. Unter der Heftigkeit solch emotionaler Aufwallungen wackelt der Realitätsbezug. Die Bereitschaft, über die Hintergründe der Fluchtbewegungen nachzudenken, tendiert gegen null. Wer etwa anmahnt, dass westliche Politik ursächlich sein könnte, bewegt sich aus stramm rechter Sicht bereits am Rande des Volksverrats.
Aber auf der linken Seite geht es nicht wirklich rationaler zu, auch wenn sie sozialere Antriebe bedient. Hier liegt der Fokus auf dem Flüchtlingselend. Mitleid wird eingesetzt, um für eine Politik der offenen Grenzen zu mobilisieren; unterschwellig spielt auch ein Appell ans Schuldgefühl mit. Eine Willkommenskultur verspricht Wiedergutmachung für das, was durch den Kolonialismus sowie seine Fortschreibung unter den aktuellen globalwirtschaftlichen Spielregeln angerichtet wurde und noch immer wird. Auch hier herrscht Faktenblindheit, nur jetzt bezogen auf Effekte, die gegen eine unkontrollierte Zuwanderung sprechen. Das mittlerweile berüchtigte «Wir schaffen das» hat ganz vom Umstand abgesehen, dass es ein solches «Wir» noch nicht einmal gibt. Fragen nach den Chancen auf Integration von Hunderttausenden und nach der Tragbarkeit des Aufwands wurden als engherzig und kleinlich abgeschmettert.
Gefühl ist alles. Die Forderung nach nüchterner Betrachtung dagegen erscheint rasch einmal als Ausdruck einer bedenklichen Gesinnung, die den bedingungslosen Vorrang einer sozialen Schwingung in Frage stellt. Hierbei mag Empathie im Spiel sein, genauso aber auch eine die Andersmeinenden ausschliessende Gruppenbindung.
Im Grunde verhalten sich die beiden Lager spiegelbildlich und folgen dabei genau jener Entwicklungslinie, auf der sich berechtigte Vernunftkritik zum Gefühlskult verdünnt hat. Auf dessen Basis jedoch ist eine Debatte, eben der Austausch von Sachargumenten, kaum noch möglich, und eine Einigung schon gar nicht, nachdem sich die Kontrahenten ja auf gegensätzliche Gestimmtheiten berufen.
Wissenschaftlicher Diskurs im Abseits
Es steht zu befürchten, dass auch die Klimadebatte in ein ähnliches Fahrwasser gerät, dass da gegenläufige Angst-Tsunamis aufgerührt werden, welche die ökonomische gegen die ökologische Apokalypse ausspielen. Letztlich auch hier zulasten des Sachbezugs, auf dessen Ebene sehr wohl verifizierbare Diskussionsgrundlagen zu finden wären. Es gehört zu den unbestrittenen Fortschritten der Aufklärung, dass sie einen Diskurs installieren konnte, der sich zumindest der Idee nach rein auf Fakten bezieht und so nüchterne Diskussionen ermöglicht – jedenfalls Diskussionen jenseits von Zwang und Zwängerei.
Die Diskreditierung der Vernunft und der generalisierte Technokratieverdacht haben jeden sachlichen Diskurs zunehmend ins Abseits gestellt und stattdessen zu einer Debattenkultur geführt, die immer mehr an Gekläff erinnert. Natürlich sind an dieser Entwicklung auch die Experten nicht unschuldig, die sich allzu leicht in den Dienst wirtschaftlicher Interessen stellen liessen und lassen. Sie haben den Eindruck gefördert, wissenschaftliche Wahrheit sei käuflich, und so deren Autorität nachhaltig untergraben.
Das Ende des Pas de Deux
Der Paartanz zwischen einer imperialen Vernunft und dem romantischen Einspruch hielt die westliche Welt während anderthalb Jahrhunderten in einer gewissen Balance. Bedingung dafür war allerdings, dass sich auch dieser Einspruch an die argumentativen Standards der Aufklärung hielt. Von der Romantik bis zum Existenzialismus war die Vernunftkritik der Form nach selbst sachlich. Sie vollzog sich immer noch als argumentierender Diskurs und nicht primär als Ausdruck einer gerade vorherrschenden Stimmungslage. Und diese Form schuf letztlich eine gemeinsame Bühne, die Austausch und damit gegenseitige Korrektur ermöglichte.
Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts begann die vernunftkritische Partei zu überbeissen und hat sich schliesslich aus dem Pas de Deux verabschiedet. Das Resultat ist eine sterile gesellschaftliche Schizophrenie: Auf der einen Seite, nämlich in den Bereichen von Technik und Ökonomie, dominiert praktisch unwidersprochen die Zweckrationalität, während der ethisch-politische Diskurs zum Spielfeld subjektiver Befindlichkeiten geworden ist.
Die Gefühlskultur wurde ursprünglich als Korrektiv proklamiert, das der Herrschaft der technischen Vernunft im Namen einer höheren Vernunft entgegentrat. In ihrer heutigen Form jedoch bewirtschaftet sie mehr und mehr ein diskursives Reservat, in dem sich die divergierenden Stimmen gegenseitig neutralisieren. So aber bringt sie kaum noch wirkungsmächtige Impulse hervor, welche die gesellschaftliche Wirklichkeit verändern könnten.
Plädoyer für neue Nüchternheit
Ungeachtet aller Skepsis, die Realität gibt es noch: Das Virus ist da; die Zahl der Infizierten, der schweren Verläufe und der Toten lässt sich ermitteln. Auch Temperaturen oder Windstärken kann man eindeutig messen sowie statistisch aufrechnen, selbst wenn dann immer noch ein Interpretationsspielraum bezüglich der Folgen bleibt. Sogar was die Migration betrifft, lassen sich die Konsequenzen innerhalb einer bestimmten Bandbreite abschätzen. Dies gilt nicht nur für die Ziel-, sondern genauso für die Herkunftsländer und nicht zuletzt für die Flüchtlinge selbst, deren Erwartungen nur zu oft enttäuscht werden.
Die weitgehend emotionale Fundierung führt in politischen Debatten zu Maximalansprüchen, die sich gegenseitig blockieren. Diskussionen auf Faktenbasis dagegen könnten die Gegensätze aufweichen und damit das Machbare in den Fokus rücken. Das Virus werden wir irgendwann im Griff haben, doch in der Klima- wie in der Migrationsdebatte stehen Entscheidungen an, die sich in den westlichen Demokratien ohne Minimalkonsens gar nicht fällen lassen. Hierfür sind die herrschenden Gefühlsdiskurse definitiv nicht zielführender als das Geschrei von Dreijährigen über die Hörnli auf dem Teller.