Ein Volk der Dichter und Denker zu sein – in diesem Ruf hat sich Deutschland und haben sich die Deutschen immer gerne gesonnt. Aber eine Wesens- oder gar Geisteseinheit zwischen der Masse der Bürger und den Schriftstellern ist so gut wie nie daraus entstanden. Das galt (und gilt weitgehend noch immer) nicht zuletzt für das Verhältnis der Literaten zur Politik. Und umgekehrt. Geist und Macht zu einem harmonischen Paar zu vereinen – kalte Politikverachtung auf der einen Seite und Abschätzigkeit gegenüber den «weltfremden Schreibern» auf der anderen –, das ist im Prinzip bis heute noch nicht gelungen.
Böll und Grass, die Ausnahmen
Entsprechend selten sind die Ausnahmen. Der Autor Günter Grass engagierte sich nicht nur politisch; nein, er stürzte sich geradezu vehement hinein und mischte bis zum Schluss lautstark mit, für und (meistens) gegen Entscheidungen im Innern und Entwicklungen weltweit. Auch der 1985 gestorbene Heinrich Böll war eine solche Ausnahme. Wie dem 1927 in Danzig geborenen Grass genügte es dem zehn Jahre älteren Kölner Böll nicht, sich in den hehren Elfenbeinturm der Geistesheroen zurückzuziehen und von dort aus die Welt mit klugen Erkenntnissen, Mahnungen und Ratschlägen zu beglücken.
Dass ausgerechnet diese beiden mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden sind, hat sicher nicht unmittelbar mit ihren gesellschaftspolitischen Einmischungen zu tun. Aber dass das dort und dabei Erlebte wichtige Impulse für ihr Schreiben gab, ist wohl nicht zu bestreiten. Das gilt vor allem im Blick auf das Aufarbeiten der Geschichte im Vor- wie im Nachkriegsdeutschland. Böll wurde als Nachkriegsstimme der deutschsprachigen Literatur ausgezeichnet, Grass hingegen als die deutsche Stimme der Weltliteratur.
Legendärer Moment der Literaturgeschichte
Es muss eine besondere Stimmung geherrscht haben an jenem Novembertag 1958 im Landgasthof «Adler» des Allgäuer Dorfes Grossholzleute, als der damals gerade 31-jährige Grass den dort versammelten Mitgliedern der «Gruppe 47» aus dem noch nicht veröffentlichten Manuskript der «Blechtrommel» vorlas. Von heute her gesehen ein wahrscheinlich legendärer Moment unserer Literaturgeschichte. Mit keinem anderen Werk ist der Name Grass so sehr verbunden wie eben mit der «Blechtrommel» – seinem Erstlingswerk, das sozusagen aus dem Nichts kam. Nicht wenige Zeitgenossen sind der Auffassung, dass der Autor dort in einer Weise wie in keinem seiner späteren Bücher seine furiose Erzählkunst entfaltete.
Günter Grass wurde oft (und zumeist in einem Atemzug wieder mit Heinrich Böll) als das «moralische Gewissen» in Deutschland bezeichnet. Er wies das immer zurück; in Wirklichkeit aber hat es ihm wohl geschmeichelt. Denn er war keineswegs uneitel und für Lob und Schmeicheleien durchaus offen. Aber er war genauso offen für harte Auseinandersetzungen bis hin zum offenen Krach – sei es im eigenen Kollegenumfeld oder in der politischen Arena. Grass´ jahrelanger Zoff mit dem Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki ist legendär, die gegenseitigen «Freundlichkeiten» der zwei Alphatiere überschritten die Grenze zur Beleidigung mitunter bei weitem.
Poet des sozialdemokratischen Zeitalters
Um einmal ein neudeutsches Modewort zu gebrauchen: «Zielgruppe» der literarischen Arbeit des Günter Grass waren nicht die Intellektuellen. Er suchte den Kontakt zur breiteren Bevölkerung. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass auf ihn die Bezeichnung «Dichter des sozialdemokratischen Zeitalters» gemünzt wurde. Dabei war es wohl in erster Linie die charismatische Person Willy Brandt (später freilich himmelte er dessen norwegische Frau Rut noch mehr an), die ihn zu Beginn der 60-er Jahre die «Sozialdemokratische Wählerinitiative» gründen liess und für die er sich geradezu rauflustig in so manchen Konflikt stürzte, um hinterher stolz zu berichten, dass er – wie im katholischen Ostwestfalen geschehen – «sogar mit Eiern beworfen wurde».
Wann und wo immer der linksliberale Mainstream seinerzeit wehte, war Günter Grass dabei. Obgleich er vorher an der Seite Brandts die SPD nach vorn gebracht hatte, kämpfte er anschliessend mit den Achtundsechzigern erbittert gegen die von der SPD mit betriebenen Notstandsgesetze, mit denen alliierte Rechtsvorbehalte abgelöst wurden. (Würde in einem historischen Seminar heute der Begriff «Notstandsgesetze» genannt, wüsste vermutlich keiner der Anwesenden damit etwas anzufangen…). Anfang der 80-er Jahre stand Grass mit an der Spitze der Demonstranten gegen die Raketen-Nachrüstung, trat später aus Protest gegen die sozialdemokratische Asylpolitik aus der SPD aus und entpuppte sich 1990 als entschiedener Gegner der nationalen Vereinigung.
Irrungen und Wirrungen
Es ist ganz gewiss richtig, wenn es jetzt in Nachrufen heisst, die Kultur und auch die Politik in Deutschland hätten mit dem Tod von Günter Grass einen der einflussreichsten, ebenso streitbaren wie umstrittenen Anreger, Mahner, Forderer und Förderer verloren. Mit Sicherheit jedoch verliert die deutsche Nachkriegsliteratur ihren weltweit erfolgreichsten und einflussreichsten Autor. Denn, ungeachtet seiner globalen Bekanntheit: Die Hoheit über die gesellschaftspolitische Debatte im Lande besass der unermüdlich weiter schreibende, redende und räsonierende, polemisierende aber auch reflektierende Schriftsteller schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Auch Grass` Lebensweg war nicht frei von Irrungen und Wirrungen.
Sein Leben lang traumatisiert von den Verbrechen der Nationalsozialisten, klammerte sich Günter Grass an die Vorstellung, die deutsche Teilung sei «die gerechte Strafe für Auschwitz». Dass die reale Entwicklung über sein Credo einfach hinwegging, verbitterte ihn. 2006 schliesslich geriet er in eine regelrechte Krise. Grass, der Mahner, der oft als selbsternannte, selbstgerechte moralische Instanz Empfundene, machte in seinem Buch «Beim Häuten der Zwiebel» fast verschämt publik, dass er als 17-Jähriger für kurze Zeit freiwillig in der Waffen-SS gewesen war. Eine Petitesse, im Grunde. Wäre da eben nicht die «moralische Instanz» vorher gewesen. Kein Wunder daher, dass sein Israel-kritisches Gedicht «Was gesagt werden muss» 2012 nicht auf freundlichen Boden fiel.
Dennoch ein Grosser
Und dennoch bleibt Günter Grass ein Grosser. Seine Geschichte ist, wie gerade jemand richtig schrieb, auch die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Und deren Geschichte ist die des Günter Grass. Mit allen Höhen und Tiefen, mit allen Irrungen und Wirrungen.