Mit dem Roman «Das Institut» greift Christian Haller kaum kaschiert auf ein denkwürdiges Kapitel der Migros-Geschichte zurück. Sein Protagonist lernt dabei viel: über das riskante Leben in Managerkreisen, über die Blindheit der Ökonomie, vor allem aber über sich selbst.
Am Ende seines anstrengenden Kongresses zum Thema Fettsucht schlendert Thyl Osterholz durch London. Neugierig bleibt er bei einem Mann stehen, der vor sich zugedeckt einen Joker und zwei Asse hat. Er mischt die Karten. Wo ist der Joker, das ist jetzt die Preisfrage. Ein Mann, der sich auf das Wettspiel einlässt, gewinnt zuerst, dann verliert er – und fordert Thyl zum Mitwetten auf. Der zieht nach, obwohl er den Trick rasch durchschaut hat. Und läuft dann verstört durch die Strassen. Es schockiert ihn, «dass es so einfach gewesen war, mich zu täuschen». Als Bub hatte er sich geschworen, dass es ihm nie so ergehen werde wie seinem Vater, der durch Machenschaften von heute auf morgen sein ganzes Geld verloren hatte. «Jetzt hatte mein jugendlicher Vorsatz einen heftigen Stoss erlitten.»
Zwei Alphatiere in unerbittlichem Machtkampf
Es ist ein Erlebnis, das er nicht mehr vergisst und von dem er Isabelle, seiner Freundin, kein Wort erzählt. Immer wieder kommt es ihm in den Sinn in den sechs Jahren, die er am «Institut für Soziales» verbringt, wo Christian Haller seinen neuen Roman «Das Institut» spielen lässt. Das ist kein Zufall. Von 1974 bis 1982 war Haller als Bereichsleiter für «Soziale Studien» am Gottlieb-Duttweiler-Institut in Rüschlikon angestellt.
Vieles im Roman erinnert an die Geschehnisse jener bewegten Zeit. Da ist Werner Lavetz, der charismatische Leiter des Instituts, in dem man ohne Mühe den ebenso charismatischen Publizisten Hans A. Pestalozzi erkennen kann – den Mann, der mit der Bewegung M-Frühling den Detailhandelsriesen schon früh zur Nachhaltigkeit erziehen wollte. Der aber gegen den mächtigen Migros-Apparat und seinen obersten, rückhaltlos dem Profit verpflichteten Boss Pierre Arnold (im Buch: Etienne Ferballaix) keine Chance hatte.
Die Grenzen des Wachstums, Schlagworte wie «Small is Beautiful», Denker wie Fritjof Capra oder Erich Fromm beschäftigen die Menschen in einer Zeit, deren Zukunftsgewissheit 1973 mit einer Öl- und Wirtschaftskrise einen harten Schlag erlitten hatte. Krise und Nachdenken: Das wiederholt sich in unserer Gegenwart.
Ein Aushilfsjob wächst sich aus
Doch Christian Haller schreibt kein Sachbuch. Er ist Schriftsteller, und so entwickelt er aus dem Erlebten einen spannungsreichen, vielschichtigen, in seinen Naturschilderungen auch sehr poetischen Roman. Das schafft er, indem er zwischen die Gegenspieler Lavetz und Ferballaix den jungen Thyl Osterholz setzt, der nach einem Diplom in Biologie nicht so recht weiss, was er mit sich und mit dem Leben anfangen soll.
Als Aushilfe fängt er am Institut an, verschlagwortet zuerst Zeitschriftenartikel, wird aber sehr rasch mit einer Tagung zum Thema Fettsucht betraut, schon bald aber umgelenkt zur sehr viel grösseren Idee eines jährlichen Spitzentreffens von Politikern und Wirtschaftsführern, das Auswege aus der globalen Krise diskutieren soll. Was soll das werden, fragt er sich, von Projekt zu Projekt gehetzt. Er ist einerseits begeistert von all den interessanten Leuten, die er auf Reisen und an Kongressen kennen lernt, während Isabelle skeptisch reagiert. Doch mit der Zeit fragt er sich selbst, «ob ich vielleicht auch nur ein Joker in einem undurchsichtigen Spiel sei».
Christian Hallers Meisterschaft
Eines Tages rät Isabelle ihm, er solle sich besser mit seiner eigenen Geschichte beschäftigen: Mit dem Vater, der als Fabrikdirektor abrupt über finanzielle Unregelmässigkeiten gestürzt ist – ein Ereignis, das ihn auch in Gestalt seines Jugendfreundes Serge verfolgt, dessen Vater dann die Nachfolge des Gescheiterten angetreten hat. Thyl wird nachdenklich, er fängt an, auf Isabelle zu hören, die ihrerseits aus ihrem Beruf als Physiotherapeutin ausbricht. Und ausbrechen will auch der Historiker Serge – aus seiner Ehe wie aus der Enge seines Fachs.
Thyl Osterholz verfolgt all dies mit immer wacherem Geist. Es ist beeindruckend, wie Christian Haller Zeitkolorit, spektakulär inszenierte Machtkämpfe und private Entwicklungswege miteinander verknüpft. Wie er Figuren zeichnet: Lavetz, der seinen Mitarbeiter umgarnt und seine Chefs mit belastendem Wissen subtil zu erpressen weiss, und Ferballaix, den Osterholz dabei beobachtet, wie er die Regionalfürsten zur Schnecke macht.
«Die Luft schien reiner Kristall»
Schliesslich aber beweist der letztes Jahr mit dem Schweizer Buchpreis geehrte Christian Haller seine schriftstellerische Meisterschaft darin, wie er Szenen und Stimmungen verbindet. Für eine Tagung in einem Bergort holt Thyl den bekannten Historiker Otto Mangold ab, dessen Villa mit ihrem panoramischen Ausblick seine Weltsicht prägt. Unsere ganze Kultur sei auf Gegensätzen aufgebaut, referiert Mangold auf der Fahrt: «Wir sind deshalb auch alle gute Analytiker, aber von der Zusammenführung, der Synthese, verstehen wir nichts. Gar nichts.» Dann, am Tagungsort angekommen, schaut Thyl aus dem Speisesaal auf eine verschneite Bergkette, «ein hochgestossenes Massiv, das mit schwarzen Felsschründen zwischen den schneehellen Flächen in einer Klarheit im Abendlicht stand, wie ich es zuvor nie gesehen hatte. Die Luft schien reiner Kristall, und die tiefstehende Sonne brach sich zu spektralen Farbtönen, die von einem tintigen Blau zu hellem Gold und Kupferrot spielten und im See einen mattbeschlagenen, bereits sinkenden Spiegel fanden».
Klarheit: Das ist, was Thyl Osterholz hier findet und was er für sein Leben sucht.
Christian Haller: Das Institut. Luchterhand Verlag, München 2024, 269 Seiten