Naheliegend ist es, das Risiko des Motorradfahrens mit anderen „Risikosportarten“ zu vergleichen. So ist die Unfallhäufigkeit beim Skifahren durchaus beachtlich, und selbst das Fahrradfahren ist nicht ganz so ungefährlich, wie es aussieht. Aber niemand löst sein Problem, indem er von sich auf andere zeigt.
„Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um“, heisst es bei Jesus Sirach (3, 27). Wie so manches aus der christlich-jüdischen Tradition haben dieser Satz und seine zahlreichen Abwandlungen unsere Mentalität bis heute beeinflusst. Hat derjenige, der sich Gefahren aussetzt, nicht etwas von einem Frevler? Versündigt er sich nicht an dem Gut des Lebens, das ihm geschenkt worden ist? Darf man Gesundheit und Leben „aufs Spiel setzen“?
Risiken ohne Nutzen
Die Antwort ist ein klares Nein. Man darf es nicht. Es sei denn, man kann ein höheres Ziel dafür angeben. Das eigene Leben darf riskiert werden, um andere Menschen zu retten. Hier liegt die Rechtfertigung in der Abwendung eines unmittelbar drohenden Übels für andere. Und die Tatsache, dass grosstechnische Systeme und der Massenverkehr Unfälle zur Folge haben, wird akzeptiert, weil der Nutzen von Technik und Mobilität die Schattenseiten aufwiegt.
Rechtfertigungen dieser Art bietet das Motorradfahren nicht. Um so stärker fällt das Risiko eines Unfalls ins Gewicht. Riskiert der Motorradfahrer sein Leben nur, um sich besser zu erholen? Das klingt nach Jux und Tollerei und verweist desto mehr auf Leichtsinn.
Der lässt sich beobachten. Überholmanöver rechts und links wie im Rausch, geschnittene und viel zu schnell gefahrene Kurven, der Verzicht auf jeden Sicherheitsabstand: In den Unfallstatistiken spielen mittlerweile die Unfälle, die allein auf das Konto der Motorradfahrer gehen, die Hauptrolle (1). Ist damit zum Thema Sicherheit und Leichtsinn das Wesentliche gesagt? Hat der Motorradfahrer einen klar erkennbaren oder heimlichen Hang dazu, sich in Situationen zu bringen, die die Lebenserwartung drastisch verkürzen können?
Technische Fortschritte
Es gibt Motorradfahrer, die sich mit blankem Entsetzen selbst so wahrnehmen. Das sind diejenigen, die irgendwann zwischen 25 und 30 das Motorradfahren aufgeben und später sagen: „Bin ich froh, dass ich das überlebt habe.“ Das Gegenteil von denen sind die Touringfahrer, oft schon in fortgeschrittenen Jahren, zum Teil beleibt, die ihre Strecken sehr ruhig angehen und möglichst wenig gestört werden möchten, schon gar nicht durch riskante Situationen. Sie meditieren beim Fahren auf ihre Weise, und ihre Gesichter haben dabei etwas leicht Entrücktes. Aber was liegt zwischen diesen beiden Polen?
Eine Kultur. Diese Kultur ist typisch für unsere Zeit. Sie besteht darin, Risiken nicht einfach zu vermeiden oder sie umgekehrt blindlings einzugehen, sondern sie ganz bewusst zu gestalten. Für jeden sichtbar ist die seit 1976 in Deutschland und seit 1981 in der Schweiz bestehende Helmpflicht. Aus den ursprünglich wenig wirksamen simplen Konstruktionen sind Integralhelme geworden, die das ganze Gesicht schützen. Protektoren in der Kleidung tun ein Übriges, und auch die Motorradtechnik hat bis zu den Bremsen mit ABS und der elektronischen Traktionskontrolle buchstäblich Meilen zurück gelegt.
Die neue Fehlerkultur
Das ist die Kultur der Ingenieure. Fast noch interessanter ist die Kultur der Fahrer und Instruktoren. Seit 1973 gibt es in der Schweiz und seit 1978 in Deutschland Sicherheitstrainings für Motorradfahrer. Die Teilnahme ist freiwillig, und es sind in der Regel die etwas besseren Fahrer über 30, die an diesen Kursen teilnehmen. In der Schweiz zahlt der "Fonds für Verkehrssicherheit" pro Kurstag bis zu 200 Franken Zuschuss, was knapp der Hälfte der Kursgebühren für einen Tag pro Teilnehmer entspricht. In Deutschland gibt es Zuschüsse von den Berufsgenossenschaften. Das geschieht, obwohl es sehr schwierig ist, einen direkten Zusammenhang zwischen der Teilnahme an diesen Kursen und verminderter Unfallhäufigkeit- und Schwere nachzuweisen. Tatsächlich geht es auch um mehr.
Es geht um die Entwicklung einer Fehlerkultur. In Hochtechnologiebereichen wie der Fliegerei hat man gelernt, dass Fehler in den Abläufen immer wieder vorkommen und den Anlass für Analysen und Verbesserungen, aber eben nicht für Schuldzuweisungen bieten. Entsprechend hat man in den letzten Jahrzehnten Methoden entwickelt, Fehler systematisch aufzuspüren und sie mit den Beteiligten im Sinne der Kompetenzsteigerung anzugehen. Auch der Motorradfahrer bewegt sich mit seinem komplexen Gerät in einer komplexen Umwelt. Das geht nicht ohne Fehler ab. Es gilt also, diese Fehler anzuschauen und daraus zu lernen.
An den Grenzen lernen
Das ist eine neue Betrachtungsweise: Lerne, das Risiko so weit wie möglich zu beherrschen! Und sei dir bewusst, dass du es nie ganz beherrschen kannst. Die dunkle Seite des Motorradfahrens verschwindet dadurch nicht, aber die Scheinwerfer richten sich darauf. In den Sicherheitstrainings werden die Fahrer systematisch an ihre Grenzen geführt. Je nach Kurs geben sie am Anfang Selbsteinschätzungen ab: Wie gut beherrsche ich das Bremsen, Fahren bei Nässe und auf Schotter, den engen Bogen, den Slalom oder das Schritttempo in der Spurgasse? Und wie sieht es mit dem Kurvenfahren auch bei höherem Temp aus? Stundenlang wird dann geübt, wobei auch Videoaufzeichnungen verwendet werden können. Weil das Ganze in der Gruppe stattfindet, weiss jeder sehr schnell, wo er steht. Und die Gruppe spornt an. So möchte man bei den Slaloms oder schnelleren Kurvenfahrten nicht derjenige sein, hinter dem sich eine Schlange bildet.
In den Pausen wird über typische Gefährdungen gesprochen. Zum Beispiel über die Risiken auf Autobahnabfahrten, Kreuzungen mit Kreisverkehr bei Regen und andere Misslichkeiten, über die man sich normalerweise nicht so sehr den Kopf zerbricht. Und was Fehlerkultur heisst, zeigt sich auch daran, dass die Trainer im Laufe der Jahre mit neuen Erkenntnissen aufwarten. So hat sich die Notbremsung – ohne ABS - völlig verändert. Bremste man früher abrupt am Rande des Blockierens, um dann zu lösen und wieder zu bremsen, also zu „stottern“, bremst man heute wesentlich sanfter, wenn auch energisch.
Relativer Rückgang der Unfälle
Diese Entwicklung der Fehlerkultur geht noch weiter. So verfügt das "Institut für Zweiradsicherheit" in Essen über einen europaweit einzigartigen Fahrsimulator. Und in verschiedenen Ländern gibt es Initiativen für bauliche Verbesserungen wie die der Leitplanken, um zu verhindern, dass Motorradfahrer beim Sturz darunter rutschen.
Nach wie vor ist es so, dass Motorradfahrer sehr viel häufiger in Unfälle mit Todesfolge verwickelt sind als Autofahrer. Auf der anderen Seite sind die Unfallzahlen in den vergangenen 30 Jahren nahezu konstant geblieben oder sogar leicht zurück gegangen. So zieht Mattias Haasper, Forschungsleiter beim "Institut für Zweiradsicherheit" im Report 2008 vom "Deutschen Verkehrssicherheitsrat" das Fazit: „Betrachtet man den Langzeittrend der verunglückten Motorradfahrer, so haben sich die Zahlen innerhalb der letzten 20 Jahre um ein Drittel reduziert, während sich der Bestand verdreifacht hat.“
Es fällt auf, dass sich die absolute Zahl der Schwerverletzen und Toten in der Schweiz im Zeitraum der letzten fünf Jahre kaum verändert hat. So starben in der Schweiz im Jahre 2005 bei Unfällen insgesamt 58 Fahrer, 2006 waren es 56, 2007 81, 2008 wieder 58, 2009 nur 42 und 2010 wieder 58 (2) Diese Konstanz der absoluten Zahlen zeigt sich auch bei den Ski- oder Fahrradunfällen, wie die Statistiken der SUVA ausweisen. Darüber mag man sinnieren.
Multifaktorielles Unfallgeschehen
Subjektiv ist das Thema des Unfalls stark verankert. 40 Prozent der Motorradfahrer denken beim Fahren häufig daran, Frauen sind interessanter Weise sorgloser. Etwa 50 Prozent aller Motorradfahrer haben in den vergangenen Jahren an einem Sicherheitstraining teilgenommen. (3) Und wer ehrlich zu sich selber ist, wird sich immer wieder eigenes Fehlverhalten vor Augen führen – und manchmal dabei erschrecken.
In komplexen Systemen der Technik wie auch beim Motorradfahren entsteht ein Unfall selten aufgrund eines einzigen Fehlers. In den meisten Fällen kommen verschiedene Faktoren zusammen. Deswegen ist es sehr wichtig, sich auf diejenigen Faktoren zu konzentrieren, die in der eigenen Gestaltungsmacht liegen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob jemand seine Maschine souverän oder nur so eben beherrscht oder ob er systematisch seine Blickführung übt oder ohne bewusste Kontrolle und Linienführung in die Kurven geht. Der Reiz des Motorradfahrens liegt ausser in dem Vergnügen an sich auch in dem Gewinn an Souveränität, der in der Auseinandersetzung mit den Tücken entsteht.
Lässt sich das Motorradfahren in Anbetracht der Risiken also rechtfertigen? Eine allgemeine Antwort gibt es nicht. Die Antwort, die jeder für sich findet, hängt damit zusammen, welche Risiken er akzeptiert und welche nicht. Aber das ist jeweils eine eigene Geschichte.
(1) Ingo Gach, in: Hans Eberspächer, Motorradfahren mental trainiert, Motorbuch Verlag 2010, S. 254
(2) www.unfallstatistik.ch und http://www.bfs.admin.ch/bfs/portal/de/index.html
(3) Tourenfahrer 1/2008, S. 72f