Ein Resolutionentwurf des UNO-Sicherheitrats, die alle Staaten auffordert, das „ungültige Ergebnis dieses Referendums nicht anzuerkennen“, wurde in der Nacht zum Sonntag durch das Veto Russlands blockiert. 13 der 15 Ratsmitglieder stimmten für den Text. China, üblich ein Verbündeter Russlands, enthielt sich der Stimme.
Für Russland ist diese nur mit dem Griff zur Notbremse verhinderte Entschliessung des Weltsicherheitsrats eine politische Niederlage. Zuvor hatten US-Präsident Barack Obama, die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und der Schweizer Bundespräsident Didier Burkhalter das von Moskau organisierte Referendum auf der Krim „illegal“ genannt. Nach den Worten Burkhalters, der als Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) sprach, müsse ein legitimes Referendum die ukrainische Verfassung respektieren. Laut ukrainischer Verfassung dürfen einzelne Gebiete keine Volksabstimmungen abhalten. Das pro-russische Parlament der Krim erklärte deshalb die Halbinsel am Dienstag formell als von der Ukraine unabhängig.
"Kein Anschlag auf unverletztliche Grenzen"
UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon geht nicht so weit, das Referendum auf der Krim völkerrechtswidrig zu nennen. Er bezeichnet die Vorgänge bloss als „besorgniserregend und ernst“ und warnte vor „hastigen Massnahmen und Entscheidungen, die Auswirkungen auf die Souveränität, Einheit und territoriale Integrität der Ukraine haben könnten“.
Jede Seite versucht die Rechtslage zu ihrem Vorteil auszunutzen. Die Grundlagen des Völkerrechts sind die Charta der Vereinten Nationen und die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975. Die UNO-Charta verbürgt allgemein die territoriale Integrität aller Staaten. In der KSZE-Schlussakte heisst es: „Die Teilnehmerstaaten betrachten gegenseitig alle ihre Grenzen sowie die Grenzen aller Staaten in Europa als unverletzlich und werden deshalb jetzt und in Zukunft keinen Anschlag auf diese Grenzen verüben.“
Beispiel Kosovo
Mit diesem Satz entsprach der Westen den Wünschen der Sowjetunion und Polens, die die im Zweiten Westkrieg geschaffenen Grenzen rechtlich absichern wollten. Die von konservativen Politikern heftig kritisierte „neue Ostpolitik“ Willy Brandts fusste auf der Einsicht, dass nur die Anerkennung der nach Hitlers Angriffskrieg und Niederlage entstandenen Grenzen ein friedliches Europa schaffen könne. Dieser Frieden hielt immerhin ein Vierteljahrhundert, bis die Umwälzungen in der Sowjetunion und in Jugoslawien neue Konflikte und Begehrlichkeiten zeitigten.
Gemäss der KSZE-Schlussakte sind Grenzänderungen und die Schaffung neuer Staaten durchaus möglich, sofern sie friedlich und im Einvernehmen der betroffenen Völker stattfinden. So gingen Tschechen und Slowaken 1993 nach einer einvernehmlichen Scheidung auseinander. Die Sowjetunion war schon 1991 ohne Blutvergiessen in ihre Teilrepubliken zerfallen. Hunderttausende Todesopfer forderte hingegen die Auflösung Jugoslawiens, obwohl die jugoslawische Verfassung den Austritt einzelner Republiken aus der Föderation erlaubte. Der rechtliche Sündenfall war aber die nach einem massiven Militäreinsatz der Nato vollzogene Abtrennung Kosovos von Serbien, obzwar die Richter des Internationalen Gerichtshof in Den Haag im Juli 2010 mit zehn gegen vier Stimmen urteilten, dass die Unabhängigkeitserklärung Kosovos „nicht das internationale Recht verletzt hat“. Die Verletzung der serbischen Verfassung zählte nicht.
Starke Separatistenbewegungen
Der Streit zwischen den Juristen, ob die gewaltsame Abtrennung Kosovos von Serbien einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen hat, hat mit Blick auf die Krim neue Aktualität erlangt. Sogar die EU ist in dieser Frage uneinig. Fünf Mitglieder (Spanien, Rumänien, die Slowakei, Griechenland und Zypern) haben die Unabhängigkeit Kosovos nicht anerkannt. Die Gründe liegen auf der Hand. Die spanische Regierung ist mit starken Separatistenbewegungen in Katalonien und im Baskenland konfrontiert. Rumänien und die Slowakei befürchten ein Erstarken der nationalistischen Kräfte in Ungarn, die den Verlust grosser Gebiete nach dem Ersten Weltkrieg rückgängig machen wollen. Auf Zypern haben türkische Truppen 1974 eine bis heute nur von Ankara anerkannte „Türkische Republik Nordzypern“ geschaffen.
Wegen des Widerstands vieler Staaten gegen Separatismus schaffte es Kosovo bisher nicht in die UNO oder in die FIFA. Die russische Regierung nutzt den Fall Kosovo als Beleg für die dem Westen vorgeworfene Doppelmoral. Sie verweist auch auf die nicht vom Weltsicherheitsrat gebilligte US-Intervention im Irak, die zur faktischen Abtrennung des ölreichen Kurdistans im Norden des Landes führte.
Eindeutiger Vertragsbruch
Dass die USA im Verlauf ihrer Geschichte regelmässig in Lateinamerika und der Karibik militärisch eingriffen, ist eine Tatsache. Auch andere Mächte waren nicht zimperlich. Es bringt die Menschheit nicht weiter, frühere Schandtaten gegeneinander aufzurechnen. Moskau ist aber jetzt im Begriff, einen eindeutigen Vertragsbruch zu begehen. Im sogenannten Budapester Memorandums garantierten nämlich Russland, die USA und Grossbritannien 1994 der Ukraine, Weissrussland und Kasachstan die Sicherheit und Achtung ihrer Grenzen als Gegenleistung für den Verzicht auf die von der Sowjetunion geerbten Atomwaffen.