Feiern zum 1. Mai haben seit Jahren schon einen routinehaften Charakter angenommen, zeichnen sich jedenfalls nicht durch Originalität oder Kreativität aus. Den Politikern, Gewerkschaftern, sonstigen Festrednern und Journalisten fällt zum angesagten Thema „soziale Gerechtigkeit“ im allgemeinen nicht viel ein: Man begnügt sich mit dem Aufzählen realisierter oder noch zu erkämpfender Errungenschaften im Rahmen des Sozialstaats und setzt dabei mit mehr oder weniger Glück die verfügbaren rhetorischen Mittel ein.
Eine angenehme Überraschung bietet dieses Jahr die „WOZ“. In ihrer Ausgabe zum 1. Mai findet sich ein mehrseitiges Dossier zum Thema „Utopie“: Da kommt frische Luft in den gesellschaftlichen Diskurs – das stimuliert. Utopien, Schilderungen eines idealen Staates, einer idealen Gesellschaft, den und die es nirgends gibt, haben ja nicht gerade Konjunktur in diesen Zeiten. Der Begriff, von Plato über Thomas Morus, von den Aufklärern bis hin zu Wells, Huxley mit spannenden Geschichten ausgestattet (und vom Zürcher P.M. in seiner Schrift „bolo´bolo“ in unseren möglichen Alltag verpflanzt), hat heute fast nur noch pejorative Bedeutung. Die Utopia des Thomas Morus, ein diesseitiges Paradies, ist zum Inferno, zur Apokalypse geworden.
Das sehen die „WOZ“-Utopisten zum Glück anders. Ob auf dem Arbeitsmarkt, im Bett, im Weltraum – es werden produktive Gedankenspiele angeboten, getreu der Überzeugung, dass eine Gesellschaft unerträglich wird, wenn sie keine utopischen Zukunftsmodelle mehr zu entwickeln vermag. Wobei schon klar ist (und das wird in einem der Beiträge auch luzid analysiert), dass heutige Visionen einer idealen Zukunft radikal anders aussehen als die Utopia des Thomas Morus.