Das Land hat schon viel übles Polit-Spektakel erlebt. Doch die letzten Wochen sprengten jeden Rahmen. Da wurde gelogen, was das Zeug hält, da wurde Zorn und Hass ausgegossen, da wurden Intrigen und falsche Anschuldigungen lanciert, da wurde taktiert, hofiert und offenbar bestochen. Italiens hochbezahlte Politiker stiegen tief in die Gosse und zeigten sich von ihrer unerzogensten Seite. Von Zivilisation keine Rede.
Nirgendwo ist der Politbetrieb eine Sonntagsschule. In allen Ländern wird gekämpft, gerauft, verhöhnt und gebalgt. Vor allem auch in Italien. Die Schlägereien im Parlament gehören zu Italiens Polit-Theater. Doch was jetzt geschah, geschieht in keiner Bananenrepublik.
“Vom Polit-Theater die Nase gründlich voll"
„Tiefer geht’s nicht mehr“, schreibt der seriöse „Corriere della sera“. Und er fährt fort: „Selten haben Politiker in der Geschichte der Republik Italien weniger Vertrauen gehabt“.
Emma Marcegaglia, die Chefin des italienischen Industrieverbandes, sagt, sie hätte vom „peinlichen Polittheater die Nase gründlich voll“. Sie fügt bei: „Unsere Geduld ist am Ende“. Berlusconi stellt alle, die gegen ihn sind, als Kommunisten hin. Bei Emma Marcegaglia fällt das schwer.
Selbst die Bischöfe mischen sich ein. „Seit Jahrzehnten würden Reformen versprochen, aber nichts geschieht. Das Land befindet sich in der Vorstufe zur Implosion“.
*Der Hass entzweit das Land“
Triste Agonie der italienischen Politik. Der „Messaggero“ befindet: „Italien ist keine parlamentarische Demokratie, sondern ein Irrenhaus“. Die grösste italienische Zeitung, die eher linke „La Repubblica“ macht sich seit längerem ein Vergnügen daraus, Berlusconi mit einer Banane zu karikieren – Bananenrepublik. Und selbst Berlusconi spricht davon, dass Italien „ein desaströses Bild“ abgebe.
„Der Hass entzweit das Land“, rief Berlusconi heute im Parlament aus. Dass vor allem er es ist, der mit seiner menschenverachtenden, scharf polarisierenden Art Hass sät, wissen alle. Dass seine Gegenspieler keine Heiligen sind – auch das ist bekannt.
Berlusconi hat Dutzende von Vertrauensabstimmungen gewonnen. Doch diesmal schien der Ausgang nicht so sicher. Millionen von Italienerinnen und Italiener sassen deshalb am Mittwochabend um 19.00 Uhr vor dem Fernsehen und verfolgten live die Abstimmung im Parlament.
Die grösste Dummheit seines Lebens
Nachdem sich Gianfranco Fini, der Präsident des Abgeordnetenhauses mit Berlusconi verkracht hat, ging – rein rechnerisch – Berlusconis Mehrheit im Parlament verloren. Fini, der frühere Vertraute Berlusconis, hatte eine eigene Fraktion gegründet.
34 Abgeordnete und zehn Senatoren, die früher zur post-faschistischen Alleanza Nazionale gehörten, spalteten sich ab und bildeten eine eigene Fraktion. Ihr Name: „Zunkunft und Freiheit in Italien“. Ihnen missfiel der autoritäre Führungsstil des Ministerpräsidenten. Die Alleanza Nazionale, einst mit vielen Mussolini-Anhängern, war eine wichtige Kraft in Italien. Bis Fini eine seiner grössten Dummheiten als Politiker beging. Er löste seine Partei auf und integrierte sie in Berlusconis PdL, Popolo della libertà, Volk der Freiheit. Doch bald schon zerstritt sich Fini mit dem Chef. Und der Chef tat alles, um Fini kalt zu stellen, lächerlich zu machen und ihn aus der Partei zu drängen. Berlusconi hasst Fini, weil dieser das Immunitätsgesetz kritisiert. Dieses Gesetz soll Berlusconi vor Strafverfolgungen schützen.
Im letzten Moment die Krallen eingezogen
In den Tagen vor der Abstimmung hatte das Berlusconi-Lager übelstes Geschütz gegen Fini aufgefahren. Vor allem die Berlusconi-Zeitung „Il Giornale“, die eigentlich keine Zeitung, sondern ein Kampfblatt ist, begoss Fini mit Pech und Galle.
Ihm wird Günstlingswirtschaft vorgeworfen. Er soll für seinen Schwager ein undurchsichtiges Wohnungsgeschäft in Monte Carlo durchgeführt haben – ein winziger Vorwurf im Vergleich zu den Milliarden-Transaktionen die Berlusconi durchgeführt hat. Doch das Berlusconi-Lager bauschte den Vorwurf zur Staatsaffäre auf. Berlusconi liess selbst den Geheimdienst ermitteln.
Die Finianer, also die Anhänger von Fini, hätten Berlusconi stürzen können. Doch sie stürzten ihn nicht. Sie zogen im letzten Moment die Krallen ein und stimmten für Berlusconi.
Kein Interesse an Neuwahlen
Dafür gibt es verschiedene Gründe. An Neuwahlen ist im Moment niemand interessiert – ausser der Lega Nord.
Berlusconi fürchtet, Neuwahlen könnten die Lega weiter stärken und seinen Einfluss eindämmen. Der polternde Umberto Bossi, der Führer der rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen Lega, macht dem Ministerpräsidenten heute schon das Leben schwer. Jüngste Regional- und Lokalwahlen zeigen, dass Bossis Partei Wind in den Segeln hat.
Doch auch Fini ist an Neuwahlen nicht interessiert – noch nicht. Seine neue Partei ist erst im Entstehen begriffen. Laut Meinungsumfragen käme er höchstens auf gut fünf Prozent. Deshalb der Rückzieher der Finianer: „Solange sich Berlusconi ans Koalitionsprogramm hält, stimmen wir für ihn“, sagte heute ein Fini-Vertrauter.
Die Abgeordnetenkammer zählt 630 Sitzen, das erforderliche absolute Mehr also 316 Stimmen. Das Berlusconi-Lager, inklusive der Lega Nord, kommt auf 306 Stimmen. Hätten die Fianianer nicht für Berlusconi gestimmt, wäre der Premier auf mindestens zehn Dissidente angewiesen gewesen. Dass man in Italien auf Stimmenkauf ausgeht, ist nicht neu. Offenbar auch diesmal nicht.
Elastische Gesinnung – gegen Geld
So erklärte Antonio Razzi, ein Mitglied der oppositionellen IDV-Partei („Italien der Werte“), man habe ihm für einen Parteiwechsel die Tilgung seiner Wohnungshypothek von 150 000 Euro angeboten – ebenso einen sicheren Listenplatz. Auch sein Parteikollege David Favia berichtet von Bestechungsversuchen. Vor allem Mitglieder der Kleinstparteien wechseln überraschend schnell die Partei und zeigen sich – was die Gesinnung betrifft – sehr elastisch. Doch dieser Stimmenkauf war jetzt gar nicht mehr nötig.
Viel angekündigt, nichts getan
Mittwochmorgen, elf Uhr: Der Ministerpräsident tritt vor das Parlament und ruft sein gespaltenes konservatives Lager zu Einigkeit auf. Wie immer reitet er eine Attacke gegen die Richter, die er in die kommunistische Ecke zu stellen pflegt. Die Krise sei noch nicht überwunden, und das Land könne sich keine Instabilität leisten.
In seinem Fünf-Punkte-Programm, kündigt er an, was er schon längst angekündigt, aber nie getan hat. Er will den Regionen mehr Autonomie geben, er will das organisierte Verbrechen stärker bekämpfen und die illegale Zuwanderung stoppen. Natürlich will er einmal mehr dem verarmten Süden helfen.
„Alles warme Luft und Rauch“ kommentiert die Opposition. „In welchem Italien leben wir?“ fragte heute Oppositionschef Pierluigi Bersani. Auch er hat heute Geburtstag.
Um 19.00 Uhr dann die Abstimmung. 342 Parlamentarier sprechen Berlusconi das Vertrauen aus. "Andiamo avanti", kommentiert er. Wieso eigentlich nicht schon vorher?
Politischer Stillstand
Damit Fini mit seinem Rückzieher nicht ganz das Gesicht verliert, hat er jetzt angekündigt, seine bisherige rebellische Fraktion in eine eigentliche Partei umzuwandeln. Eine Partei allerdings, die Berlusconi unterstützen will – vorläufig.
Während sich die Politiker austoben und Berlusconi all seine Energie darauf verwendet, Gesetze zu verabschieden, die seine Immunität garantieren, herrscht politischer Stillstand.
Das Volk scheint den Politikern ziemlich egal. Und dem Volk geht es schlecht. Seit Jahren hämmert Berlusconi seinen Landsleuten ein, Italien gehe es wirtschaftlich besser als andern Ländern. „Seid glücklich, wir sind besser als die andern“ – so lautet seine Botschaft und die Botschaft seiner Minister.
Italien geht es schlechter als den andern
„Italien geht es nicht besser als den andern“, sagte letzte Woche Emma Marcegaglia, die Präsidentin von Confindustria. Im Gegenteil. Im Jahr 2009 sank das Bruttoinlandprodukt in Italien um 6,8 Prozent. Nur Japan ging es mit minus 8,7 Prozent noch schlechter. In der EU-Zone sank der Wert um 5,3 Prozent, in Spanien um 4,9, in Frankreich um 3,9.
Und das Wachstum in diesem Jahr verläuft in Italien langsamer als in den meisten andern Ländern. Im 2. Trimester 2010 wuchs die italienische Wirtschaft um nur 1,3 Prozent, in Japan sind es 4,5 Prozent, in Deutschland 4,2. Nur Spanien geht es mit einem Wachstum von 0,3 Prozent noch schlechter als Italien.
13 Prozent Arme
Fünf Monate nach dem erzwungenen Rücktritt von Industrieminister Claudio Scajola hat Berlusconi noch immer keinen Nachfolger ernannt. Das zeigt, dass ihm die Entwicklung des Landes weniger wichtig ist als sein Überleben. Die oppositionelle „Repubblica“ zählt in jeder Ausgabe, seit wie vielen Tagen Italien ohne Industrieminister ist. Heute sind es 148 Tage.
Die Löhne sinken; der Kaufkraftverlust der Angestellten und Arbeiter betrug in den letzten zehn Jahren 5‘453 Euro. Das sind bis zu 33 Prozent des Lohnes. Die meisten geraten in die Schuldenfalle; 23 Millionen Italiener haben am 20. des Monats kein Geld mehr.
Laut offizieller Statistik gibt es in Italien acht Millionen Arme. Das heisst: 13 Prozent der italienischen Bevölkerung sind arm. Sie haben im Durchschnitt 780 Euro pro Monat zur Verfügung.
All das scheint die Berlusconi-Regierung wenig zu kümmern. Stattdessen berieseln die Berlusconi-TV-Stationen das Volk mit unerträglichen Programmen, die schöne, lachende und Champagner-trinkende VIPs in Forte dei Marmi, Taormina oder Capalbio zeigen.
Gefährliche soziale Spannungen Berlusconi wird weiter sich nur mit sich beschäftigen Noch hält sich die Wut der Italiener in Grenzen. Doch erstmals gibt es Anzeichen, dass sich soziale Spannungen entladen könnten. Und dennoch: Meinungsumfragen zeigen, dass Berlusconi zwar arg Federn gelassen hat. Doch wahrscheinlich würde er wieder gewählt. Das liegt auch am kläglichen Zustand der Opposition.
So wird Berlusconi weiterregieren. Und am nächsten Samstag werden wieder 200 Autobusse in Rom eintreffen und Tausende von Demonstranten an den Tiber bringen. Sie werden am Anti-B-Day erneut die Entlassung von Berlusconi fordern. Laut werden sie von der Piazza della Repubblica zur Piazza San Giovanni ziehen. Und nichts wird geschehen.