Nicht nur zählt das Beben laut dem US Geological Survey mit einer Magnitude von 8,9 zu den sieben stärksten historischen Erdbeben der letzten Jahrhunderte überhaupt – stärkere werden einzig für das Jahr 1960 in Chile (Magnitude 9,5), für 1964 in Alaska (9,2), für 2004 vor Sumatra (9,1) und mit je einer Magnitude von 9 für 1868 wiederum im heutigen Chile sowie das Jahr 1700 an der amerikanischen Westküste aufgelistet. Selbst das berühmte grosse Erdbeben, das 1923 weite Teile Tokios und Yokohamas zerstörte und über 142 000 Tote forderte, hatte mit einer Magnitude von 7,9 eine deutlich geringere Stärke.
Das Erdbeben vom Freitag brachte, wie manch andere grosse Beben, auch einen verheerenden Tsunami mit sich; er spülte kurze Zeit nach der Erschütterung rund 130 Kilometer östlich der Millionenstadt Sendai mit bis zu 10 Meter hohen Wellen ganze Dörfer und Stadtteile weg. Und noch ist die Gefahr keineswegs gebannt. Die starken Nachbeben, von denen in den letzten 48 Stunden Dutzende erneut eine Magnitude von 6 und mehr erreichten und allenfalls weitere Flutwellen könnten zum Teil beschädigte Bauten noch vollends zusammenstürzen lassen. Die Versorgung mit Elektrizität und Wasser sowie die Telefonnetze sind vielerorts zusammengebrochen.
Unabsehbare Folgen
Klar ist jedoch heute schon, dass das Ereignis nicht nur Japan vor kaum zu bewältigende Aufgaben stellt und zu physischen Erschütterungen der Erdkruste rings um den Globus geführt hat, sondern auch menschlich und wirtschaftlich noch nicht einzuschätzende Folgen nach sich ziehen wird. Auch werden die Probleme, zu denen das Beben und die anschliessende Flutwelle in den Nuklearanlagen führen, einen weltweiten Nachhall haben. Rings um den Globus verfolgt eine interessierte Öffentlichkeit, die über Live-Sendungen die Not der japanischen Bevölkerung hautnah miterlebt, auch die Bemühungen, Klarheit über die Situation in den beschädigten Anlagen zu gewinnen.
Vor allem gilt es, die Kühlung in den beschädigten Kraftswerksblöcken der mehrere Dutzend Kilometer südlich von Sendai am Meer gelegenen zwei Nuklearparks von Fukushima soweit sicher zu stellen, dass es nicht zu einer Kernschmelze mit der Freisetzung grosser Mengen von Radioaktivität kommt. Der Tsunami hatte laut den Meldungen der Internationalen Atomenergieagentur in Wien nämlich nur kurz nach dem Beben im Komplex Fukushima 1 die für die Kühlung wichtige Notstromgeneratoren lahm gelegt. Die japanischen Behörden schlossen am Sonntag eine Beschädigung der Reaktorkerne im Block 1 und 3 nicht aus. Sie erklärten, sie könnten diese nicht genau prüfen, würden jedoch bei ihren Massnahmen von diesem Szenario ausgehen.
Kein Tschernobyl
Eine teilweise Zerstörung des Reaktorkerns führt allerdings noch nicht notwendigerweise zu katastrophalen Freisetzungen von radioaktiven Stoffen, wie der Störfall 1979 im amerikanischen Kernkraftwerk Three Mile Island gezeigt hat. Und ein Szenario, wie es 1986 sich in Tschernobyl abgespielt hat, ist nicht zu erwarten. Dort war ein ganz anderer Reaktortyp im Einsatz, der grosse Mengen Graphit enthielt, welcher zu brennen begann und zusammen mit einer Explosion grosse Teile des radioaktiven Inventars in die Höhe beförderte.
Dennoch hat die Naturkatastrophe in Japan zu einer höchst beunruhigenden Situation in einzelnen Kernkraftwerken geführt. Ob und wie sie unter Kontrolle gebracht werden kann, ist noch offen und nicht allein für die japanische Bevölkerung von eminenter Bedeutung. Die Geschehnisse und der Erfolg oder Misserfolg der Spezialisten bei deren Bewältigung dürfte auch die Zukunft der Kernenergie entscheidend beeinflussen. Bereits die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatte die Branche weltweit in eine lang anhaltende Krise gebracht, obwohl damals nicht nur argumentiert werden konnte, dass es sich beim Tschernobyl-Reaktor um eine völlig andere Bauart handle als bei den im Westen üblichen Reaktoren, sondern auch, dass zahlreiche Mängel bei der Sicherheitskultur ein derartiges Ereignis begünstigt hätten.
In Japan dagegen geht es nun um dieselben Reaktortypen, wie sie auch in Europa und den USA in Betrieb sind - in der Schweiz zum Beispiel gleicht die Anlage in Mühleberg jenen der betroffenen Reaktoren in Fukushima. Und Japans Kernkraftwerksbetreiber haben immer wieder ihren hohen technischen Sicherheitsstandards betont. Zudem gehört das stark technisierte Land zu den Industriestaaten mit den ambitiösesten Ausbauplänen im Nuklearsektor. Und japanische Firmen haben sich in den letzten Jahren an vorderster Front als Kraftwerkslieferanten für eine neue Ära der Kernenergie global in Stellung gebracht. Das, was man jetzt am Bildschirm sieht, spielt sich also in einem modernen, hochtechnisierten Land mit einer ausgebauten Katastrophenvorsorge ab.
Die Geschehnisse der nächsten Tage in den Kernkraftwerken am Rande des Pazifiks und die Art deren Bewältigung werden daher die Zukunft der Kernenergie auch bei uns nachhaltig beeinflussen, auch wenn sich hier zurzeit niemand vor stark strahlendem radioaktivem Fallout zu fürchten braucht. Und die Kombination eines Erdbebens mit einem Tsunami an den meisten Standorten Europas nicht möglich ist.
Entscheidend wird dabei nicht nur sein, dass die Störfälle unter Kontrolle bleiben – was vor allem der lokalen Bevölkerung dringlichst zu wünschen ist -, sondern dass die Information trotz den grossen Herausforderungen transparent, rasch und ehrlich erfolgt. Das ist in Japan nicht selbstverständlich, gab es hier in den letzten Jahrzehnten doch immer wieder Pannen und auch skandalöse Vertuschungsmanöver bei deren Aufklärung.