Niemand kann in Ruhe leben, wenn der telefonierende Nachbar es nicht will. Und doch gibt es ein wirksames Gegenmittel. Dazu muss man die Situation allerdings neu verstehen und sich dann entsprechend verhalten.
Ein seltsames Gesetz des täglichen Lebens besteht darin, dass in einem Restaurant, einem Zug oder einem Bus immer jemand lautstark telefonieren muss. Alle anderen sind ruhig, aber einer stört. Über diese Tatsache wird viel geklagt, und vor Kurzem schrieb ein Journalist, dass sich in solchen Fällen ein Schweizer nur ärgern, ein Deutscher aber eingreifen würde.
Publikum
Das mag so sein oder auch nicht. Auf jeden Fall ist derjenige, der sich beim Telefonierer beschwert, in einer misslichen Situation. Denn er begibt sich damit in die Rolle eines Bittstellers. Nur wenige dürften es schaffen, energisch wie ein Polizist aufzutreten. Die meisten wirken wie verzagte Querulanten. Somit ist der Telefonierer im Vorteil. Denn wenn er sich nicht beirren lässt, blitzt derjenige, der sich beschwert, ab.
Eine völlig andere Betrachtungsweise verändert die Situation grundlegend. Denn dann erkennt man, dass derjenige, der lauthals telefoniert, sich damit in seiner unmittelbaren Umgebung nicht nur unfreiwillige Zuhörer, sondern geradezu sein Publikum erschafft. Wenn ich also unfreiwillig zum Publikum des lautstarken Telefonierers geworden bin, kann ich mich auch wie ein Publikum verhalten. Ich kann also auf das, was ich höre, reagieren. Das Publikum eines Redners macht zum Beispiel Zwischenrufe. Die können zustimmend oder ablehnend ein. Und im Theater ruft das Publikum auch schon mal «Buh!».
Der «Rundungsfehler»
Ich habe diesen Perspektivenwechsel vor Kurzem einmal ausprobiert und muss zugeben, dass mein erster Versuch noch etwas grob war. Aber er hat funktioniert: In einem Gartenrestaurant wurde an meinem Nachbartisch ein wie üblich lautes Telefonat geführt. Nicht nur ich, sondern auch die übrigen Gäste konnten jedes Wort mit verfolgen. Es ging um irgendwelche internen Dinge einer Firma, und schliesslich sagte der Telefonierer: «Das ist ein Rundungsfehler.» Dieser Satz gefiel ihm so gut, dass er ihn gleich noch einmal wiederholte. Ich drehte mich zu ihm um und sagte laut und bestimmt: «Das ist kein Rundungsfehler.» Im ersten Moment war der Mann völlig verblüfft, dann stand er auf und suchte das Weite. Heitere Mienen am Nachbartisch.
Wenn man sich als Publikum begreift und sich im aktiven Zuhören übt, finden sich zahllose Ansätze für Zwischenrufe. So neigen gerade Manager dazu, am Telefon mit ihrem energischen Auftreten zu prahlen. Da kann man auch einmal Beifall spenden, indem man ruft: «Bravo, dem haben Sie es jetzt aber ordentlich gegeben.» In einer anderen Situation kann man mitfühlend sagen: «Da haben Sie sich wohl sehr geärgert.»
Verunsicherung
Auf nichts reagieren Menschen derartig verunsichert wie auf Bemerkungen, die unerwartet auf ihre Befindlichkeit zielen. Dieser Effekt wird noch dadurch gesteigert, dass die Telefonierer die Menschen um sich herum ausblenden. Sie existieren für sie gar nicht. Und plötzlich kommt aus dieser amorphen Masse ein Satz, der sie wie ein nasses Handtuch anklatscht. Schlagartig finden sie sich in einer neuen Konstellation wieder. Leibhaftige, real existierende Personen sprechen sie unvermittelt an.
Das ist schon ein Schlag. Dessen Wirkung lässt sich noch steigern. Allerdings muss man bereit sein, dafür ein bisschen – wirklich nur ein bisschen – zu bluffen. Am besten macht man das mit Bemerkungen, die in jeder Situation auf alles und jedes passen, aber ebenso bedeutungsschwanger klingen wie die Voraussagen von Astrologen. «Das sagen Sie doch immer», ist so eine Bemerkung. Wenn man sich mehr zutraut, kann man sagen: «Jetzt verschweigen Sie aber etwas.» Oder umgekehrt: «Das haben Sie doch neulich auch schon gesagt.»
Rechtfertigungsdruck
Das Arsenal von nichtssagenden Sätzen ist schier unendlich. Und für den Telefonierer klingen sie unheimlich und bedrohlich, weil damit der Anschein erweckt wird, jemand wisse mehr über ihn, als er für möglich gehalten hätte. Und alle um ihn herum hören mit! Das verstärkt noch einen anderen Effekt: den Rechtfertigungsdruck. Denn diese an sich nichtssagenden und dunklen Sätze klingen immer auch wie Vorwürfe, die niemand auf sich sitzen lassen kann: «Jetzt übertreiben Sie aber.» Oder «Das klingt etwas wehleidig.»
Wer schüchtern ist, wird sich etwas überwinden müssen, um sich gegen die Zudringlichkeit der ungenierten Telefonierer zur Wehr zu setzen. Aber niemand muss ernsthafte Aggressionen befürchten. Denn kein Telefonierer wird es wagen, in aller Öffentlichkeit Grenzen zu überschreiten, die ihn in ernsthafte Konflikte mit dem Strafrecht stürzen würden. Statt dessen wird er lieber verstummen oder sich verkrümeln.