Auf den Strassen liegen keine Leichen. Kein Fussgänger unter den Arkaden aus Tuchbahnen entlang des Colaba Causeway torkelt und fällt hin. Im Gegenteil, Mumbai fühlt sich ein bisschen wie eine Tropenstadt im dösenden Sonntagmittagsschlaf an. Weniger Autos sind unterwegs, ein Hupsignal wirkt eher wie eine einsame Vogelstimme als Teil einer Schiesserei. Vermummte Fussgänger gleiten an einem vorbei, statt sich mit erhitzten Gesichtern vorzudrängen.
Die Unterschiede zur Normalität werden erst langsam wahrnehmbar. Statt dem alltäglichen Gedränge wächst die physische Distanz zwischen den Passanten. Oder man kreuzt einen Mann, das Handy am Ohr, und fängt Wortfetzen auf, die da lauten: „Spitaleinlieferung? Aber Du weisst doch, dass keine freie Betten zur Verfügung stehen.“ Beim informellen „Arbeitsmarkt“ vor der Polizei-Hauptwache, wo sonst Trauben von jungen Männern ihre Arbeitskraft anbieten – gähnende Leere. Bettler, sonst hautnah, rufen nun aus der Distanz ihren Obolus ab.
Stattdessen findet man die Menschentrauben im Bus-Terminal und Hauptbahnhof. Oder sie drängen sich um die Krankenhäuser, die weiträumig abgesperrt sind. Die Massnahme dient den Spitälern auch dazu, sich ins Freie auszubreiten, wenn die Eingangshallen bereits mit Betten besetzt sind. Ein wartender Mann vor dem Bhatia-Spital macht mich auf den Rauch im Hinterhof aufmerksam: Leichenverbrennung. Plötzlich ist die mittelalterliche Pest nicht mehr so weit weg.
220’000 Neuansteckungen pro Tag
Nicht nur Tagelöhner fahren in ihre Dörfer zurück. Die grosse Mehrheit der Handwerker – Elektriker, Maurer, Schreiner, Sanitär-Einrichter, Plattenleger – macht sich frühzeitig auf, um nicht in einen harten Lockdown zu geraten. Ihr Arbeitsplatz befindet sich zudem meistens in einem Haushalt. Aus Angst vor Ansteckungen werden anstehende Reparaturen oder Installationen abgesagt.
Aber auch im „formellen Sektor“ treten plötzlich Lücken auf. Eine Reparatur des Kühlgeräts? Keine Chance. Ein schon lange geplantes Gespräch mit einem Bankfachmann über Zoom? „Können wir’s verschieben? Viele Mitarbeiter fallen gegenwärtig aus.“ Die Zahnärztin muss die Zahnfüllung eigenhändig kneten. Und ein Ölwechsel in der Toyota-Garage benötigt einen Tag, wegen Kurzarbeit und Entlassungen.
Das ist inzwischen weltweiter Alltag und nichts Neues. Ebenso vertraut sind die mageren Zeitungsbünde, die Tag für Tag ein Zahlengewitter herabprasseln lassen: 220’000 Neuansteckungen pro Tag, steigende (wenn auch noch tiefe) Todesrate, 15 Millionen aktive Fälle. Sie überlassen es den Lesern, zwischen Hoffnung, Angst oder Panik zu wählen. Kommen dann noch die TV-Bilder von der Kumbh Mela hinzu, schwindet auch diese kleine Freiheit.
„Apotheke der Welt“?
In die Schadenfreude mischt sich der Zorn, dass die national-religiöse Regierung unfähig ist, das Badeverbot im Ganges durchzusetzen, um ihre Hindu-Anhänger nicht zu verprellen. Oder ist sie nicht willens? Im Februar liess es sich der Gesundheitsminister nicht nehmen, eine ayurvedische Covid-Therapie (nicht–Prävention!) der Firma eines Yoga-Gurus namens Baba Ramdev anzupreisen. Harsh Vardhan (selber ein Arzt) sagte bei Ramdevs Launch stolz, Indien habe als erstes Land ein wirksames Covid-Heilmittel entwickelt.
Ins gleiche Kapitel gehört der gegenwärtige Notstand bei der Impfdosen-Beschaffung. Vor einem Jahr pries Premierminister Modi sein Land stolz als „Apotheke der Welt“. Er meinte damit das „Serum Institute of India“ (SII), das fast zwei Drittel aller weltweit eingesetzten Impfstoffe herstellt.
Aber das SII ist eine Privatfirma, die einem Parsen gehört und nicht einem Hindu; zudem ist es eine reine Produktionsfirma, ohne eigene F&E. Die Forschung für SII-Impfstoff stammt aus der Universität Oxford, die Entwicklung geht auf das Konto von Astra Zeneca.
Exportverbot
Daher musste ein rein indischer Impfstoff her. Er wurde bei einer bisher unbekannten Firma namens Bharat Biotech geortet, die mit der Entwicklung allerdings in Verzug war. Der Impfstoff von BB wurde im Eilverfahren getestet und zugelassen, damit sich Indien in die vermeintliche Elite der Impfstoff-Erfinder einreihen konnte.
Als Bharat Biotech auch die Produktion nicht hochfahren konnte, bestellte die Regierung im Januar 2021 beim Serum-Institut endlich eine bescheidene Dosis von 45 Millionen Impfdosen und stockte sie später um 100 Millionen auf. Aber sie liess sich nicht dazu herbei, mit einem Darlehen rasch neue Produktionskapazitäten zu schaffen, wie dies die USA und Grossbritannien getan hatten.
Es zeigte sich rasch, dass weder SII noch Bharat Biotech fähig sind, den Bedarf für die „Alten“ (45+) zu decken. Das sind über 400 Millionen Menschen, die bis im August doppelt geimpft sein sollen – 800 Millionen Dosen. Die Regierung zog kurzerhand die Notbremse und blockierte die Exporte des Serum Institute.
100 Millionen Sputnik-Dosen
Damit hat sie eine Kettenreaktion ausgelöst. Sie bestraft in erster Linie die Empfänger im Rahmen der Gavi-Initiative der Weltgesundheitsorganisation. SII/Astra Zeneca haben sich vertraglich verpflichtet, der WHO 1 Milliarde Impfdosen (400 Mio. in diesem Jahr) zu liefern. Astra Zeneca hat einen Vertrag mit Gavi/WHO und erhielt bereits Vorauszahlungen dafür.
Auch die 300 Millionen Dollar, welche die Gates-Stiftung dem SII zur Verfügung stellte, kamen mit der Bedingung, dafür bevorzugt die 85 Staaten der GAVI-Initiative zu beliefern. Nun hat Astra Zeneca rechtliche Schritte gegen SII angedroht; dieses verweist auf das Exportverbot der Regierung. Die Pointe: Premierminister Modi hatte zuvor die 85 GAVI-Empfänger kurzerhand als Gratis-Empfänger von Indiens Grosszügigkeit vereinnahmt!
Dennoch ist der indische Bedarf selbst mit diesem fragwürdigen Manöver auch nicht annähernd gedeckt. Die stolze „Pharmacy of the World“ muss also eilig auf Impfdosen-Kauf ins Ausland gehen. Sie ist sogar bereit, die Zulassungen westlicher Zertifizierungen zu übernehmen und auf Verträglichkeitstests zu verzichten. 100 Mio. Dosen des russischen Sputnik V sollen rasch importiert und dann lokal hergestellt werden, ohne dass die angekündigten Feldversuche beendet worden sind.
Nun läuft plötzlich alles schief
In den letzten drei Monaten hat Indien hundert Millionen Impfungen durchgeführt. Das ist eine beachtliche Zahl, auch wenn die meisten nur Erst-Injektionen waren. Aber für ein rasches Hochfahren der Produktionskapazität von gegenwärtig 70 Mio. Dosen pro Monat ist es zu spät, um bis August 400 Millionen Menschen zweimal zu impfen.
Indiens Impfstrategie, wenn es denn eine gibt, liegt in Trümmern. Nicht dass die Politiker das Stimmenpotential der Covid-Bekämpfung verachten, wenn diese Erfolge verspricht. Jede doppelt geimpfte Person bekommt ein Zertifikat, auf dem das Konterfei des Regierungschefs prangt, als sei die Impfung sein Geschenk an die Nation.
Aber nun läuft plötzlich alles schief. Man hält sich also bedeckt. Premierminister Modi tut dies, indem er ... Wahlkampf betreibt. Die zweite Covid-Welle überrollt Indien, doch Modi sowie Innenminister Amit Shah surfen über das Land, um bei vier anstehenden Provinzwahlen weitere Hindus heim ins BJP-Reich zu bringen.
Wahlkampf
Heute sind sie in Westbengalen, morgen in Kerala, dann wieder in Assam, und zurück in Tamil Nadu. Die Destinationen sind tausend Kilometer voneinander entfernt. Charter-Flugzeuge und -Helikopter garantieren eine Omnipräsenz der politischen Stars. Die Wahlen sind zudem auf ein Dutzend Termine festgelegt, so dass noch mehr Wahlveranstaltungen durchgeführt werden können.
Statt dort soziale Distanz zu praktizieren, können diese nicht gross und dichtgedrängt genug sein. Wer darf es wagen, den demokratischen Urschrei einer Wahlkampagne wegen eines winzigen „Käfers“ virtuell über die Bildschirme durchzuführen? Auch in die Wahlreden soll kein Covid-Wermutstropfen einfliessen und die Kernbotschaft versäuern. Sie lautet: Eine rasche Einfärbung des ganzen Landes mit Hindutva-Orange, gekoppelt mit Muslim-Bashing.
Mit Covid lässt sich dagegen wenig Staat machen. Bei seinem letzten Covid-Aufruf vor zehn Tagen sprach der Premierminister vom „Erfolg“ der letztjährigen Test-Kampagne, die dafür verantwortlich gewesen sei, dass die Epidemie bis Ende Jahr „fast ausgerottet war“. Statt den wunden Punkt der Impfstrategie zu berühren, wiederholte er seine Aufrufe, fleissig zu testen.
Die Situation schönreden
Testen ist zweifellos wichtig, aber nur, wenn neben Rückverfolgung und Verlauf der Krankheit auch Strukturveränderungen des Virus erfasst werden. Gegenwärtig werden fast täglich neue Mutanten festgestellt, die sonst nirgendwo weltweit aufgetaucht sind. Dazu gehört eine Doppel-Mutation, die im März im ländlichen Maharashtra auftauchte, die eine raschere Ansteckung suggeriert und möglicherweise auch einen härteren Verlauf. Innerhalb eines Monats hat sie 60 Prozent aller positiv getesteten Personen erfasst.
Statt diesen Mutanten mit einer Zuweisung an Forschungslabors die nötige Aufmerksamkeit zu geben, wurde deren Virulenz von der Zentralbehörde bisher heruntergespielt. Einer der Gründe mag sein, dass im ganzen Land nur zehn Labors diese Genomstudien durchführen können, mit entsprechenden Verzögerungen und logistischen Herausforderungen. Aber der Verdacht bleibt, dass die Regierung die Situation schönredet – zumindest bis die Provinzwahlen vorbei sind.
Am 30.April ist die Kumbh Mela zu Ende. Die dreieinhalb Millionen Pilger haben begonnen, wieder in ihre Städte und Dörfer zurückzukehren. Die allermeisten werden dies ohne einen Test tun, und schon gar nicht mit einer Impfung. Was dies für Indien bedeutet, lässt sich leicht ausdenken.
Als ich einen guten Bekannten fragte, was ihm durch den Kopf ging, als er die TV-Bilder der nackten Sadhus mit ihren baumelnden Gliedmassen sah. „Der Glaube kann Berge versetzen“, zitierte er den abgeschliffenen Zauberspruch; und fügte ihm grimmig einen Nachsatz bei: „Und sie werden uns alle darunter begraben.“