Zwar traf ich Krishnan Ganesh im vornehmen Hotel Leela Kempinsky in Bangalore, aber ich wusste, warum er mir für den Gesprächstermin den Bollywood-Barocktempel vorgeschlagen hatte. Nicht um Status zu simulieren, sondern weil es der Ort zwischen Flughafen und Electronic City war, wo die Möchtegern-Magier der Informationsbranche ihre Kunden empfingen, weil sie selber über keinen Büroraum verfügten. Nicht einmal einen Kaffee bot er mir an, sondern klappte seinen Laptop in einem Fauteuil in der kostenfreien Empfangshalle auf.
Eigentlich hatte ich Ganesh schon früher getroffen, in der kleinen Wohnung eines älteren Ehepaars in einem Wohnsilo in Gurgaon, wohin mich seine PR-Managerin (sie sass in New Jersey) gelotst hatte. Dort sass Lalitha Venkatesan, eine pensionierte Lehrerin, an ihrem Esstisch, bei einer Nachhilfestunde in Rechtschreibung mit dem elfjaehrigen Gayan. Sie kommunizierte mit ihm über Skype. Vor sich hatte sie, neben Salz&Pfefferfässchen, eine Bildschirmtafel, auf die sie schwierige englische Wörter schrieb. Sie erschienen zeitgleich auf dem Computer, auf ihrem und jenem von Gayan, der zuhause sass, einem Vorort von London. Ich erinnere mich noch, dass Lalitha auf den oberen Computerrand eine kleine Gipsfigur von Ganesh, den elefantenköpfigen Gott, platziert hatte, und dass ich mich gefragt hatte, ob es wohl eine ironische Anspielung auf ihren gleichnamigen Chef war.
Ganesh, der Unternehmer, hatte knapp zwei Jahre zuvor eine Firma namens TutorVista gegründet. Die Idee dazu war ihm, so erzählte er mir im Kempinski, bei einem Besuch in den USA gekommen. Er hörte von der mangelnden Qualitaet der amerikanischen Schulen und dem grossen Bedarf an Nachhilfeunterricht, sichtbar am Preis einer Unterrichtsstunde: 40 Dollar. „Ich zählte Eins und Eins und Eins zusammen, und TutorVista war geboren“. Die zweite Eins waren Leute wie Lalitha in Gurgaon: Zehntausende von pensionierten indischen Lehrern, mit einer lausigen Rente und viel Freizeit. Die dritte Eins war Technologie: die Fähigkeit, den Bildschirm als Wandtafel zu benutzen, und praktisch gratis weltweit zu kommunizieren.
Als ich Ganesh Ende 2006 traf, hatte er bereits mehrere hundert Tutoren unter Vertrag. In New Jersey sass Lizzie Jenkins, die PR-Managerin, die Kunden hereinholte, mit dem unschlagbaren Angebot von 100 Dollar pro Monat Nachhilfeunterricht, ohne zeitliche Beschränkung. Die Tutoren sassen in ganz Indien verstreut, und Ganesh war gerade dabei, mit pensionierten Lehrerinnen in Hongkong und in den Philippinen zu verhandeln, da er einen Bedarf für Chinesisch- und Spanisch-Büffeln festgestellt hatte. Ganesh hatte gestrahlt wie ein kleiner Elefantengott: „Es ist eine wunderbare Geschichte – eine riesige Nachfrage, ein riesiges Angebot. Ich muss nur Beide verknüpfen“. Und ich erinnere mich, dass er mir, lachend, anbot, ein paar Anteilscheine zu verkaufen, nicht weil er das Geld brauchte, sondern wohl eher, weil er mir zeigen wollte, wie man aus Stroh Gold dreschen kann. (Er brauchte das Geld auch deshalb nicht, weil TutorVista bereits sein viertes ‚Start-up‘-Unternehmen war – Jedes hatte er nacheinander mit grossem Gewinn abgestossen).
Zu dumm, zu ehrlich
Ich weiss noch, dass mich das Angebot gekitzelt hatte, aber ich war wohl zu dumm und ehrlich, um darauf einzutreten (ehrlich? Nun, wie konnte ich guten Gewissens einen Artikel über eine Firma schreiben, bei der ich beteiligt war?). Aber dumm war ich allemal. Ich erinnere mich an die Erleichterung, der Verlockung nicht erlegen zu sein, als ich das Büro von TutorVista besuchte. Es waren ein paar Kabinenplaetze in einem gesichtslosen Bürohaus, die der Staat kleinen Start-ups vermietete. Ein alter mürrischer Mann sass in einem Kabäuschen und zeichnete Rhomben und Zylinder auf seine Bildschirmtafel, ein IT-Ingenieur arbeitete an einer neuen Lernsoftware. Die Personalchefin, mit der ich mich verabredet hatte, war eine kleine gedrungene Frau aus Wales, die sich wohl aus Liebesdrängen (ihre Visitenkarte lautete auf Louise Kumar) nach Bangalore verirrt hatte. Es sah Alles sehr amateurhaft und unseriös aus.
Was ich nicht in meine Einschätzung einbezogen hatte, obwohl ich es hätte wissen müssen: Es war vier Uhr am Morgen, als ich Louise traf; sie sprach mit New Jersey, wo sie zusammen mit Lizzie neue Mitarbeiter anstellen sollte, und die immer Nachtschicht schob, weil sie am Tag ihr Kind hüten musste. Ich habe in einem alten Notizblock dieses Zitat von ihr gefunden: „This is crazy. Imagine - I am the Chief of Personnel of the company and have never met most of my staff“. Dabei war genau diese Nachtzeit einer der wichtigsten Bausteine von Ganeshs Erfolg. Sie erlaubte ihm, den Standortnachteil – der Tutor sitzt in Assam, die Schülerin in Anchorage – aufzuheben: Nachhilfeunterricht ‚rund um die Uhr‘ heisst auch ‚rund um den Globus‘. (Hatte nicht auch Ganesh – die göttliche Variante – wie ein Unternehmer gehandelt, für den Zeit eine kostbare Ressource darstellt? Es ging darum, wer zuerst heiraten durfte, er oder sein Bruder Karttikeya. Die Eltern Shiva und Parvati beschlossen ein Wettrennen um die Welt. Wer als Erster zurückkam, würde als Erster heiraten. Karttikeya bestieg seinen Pfau und war auf und davon. Ganesh blieb zuhause sitzen, ass, schlief, und umkreiste bei Gelegenheit einmal seine Eltern. Und da sie als oberste Gottheiten das ganze Universum in sich umfassten, hatte er gewonnen).
Und dann das - für 120 Millionen verkauft
Weshalb diese Reminiszenz an Ganesh, den Menschen? Vor zwei Tagen las ich in den Zeitungen, dass der britische Medienkonzern Pearson – Besitzer des Penguin-Verlags, des Economist und der Financial Times – 59% von TutorVista gekauft haben, für 5,7 Milliarden Rupien. Das sind etwa 120 Millionen Franken. Es sei der grösste Deal im Bildungsbereich in Indien, erklärte der ‚Business Standard‘ und zitierte Pearson-Chef John Makinson: „The investment in TutorVista gives us control of the world’s largest online tutoring business“. Auch Ganesh wurde in einer Zeitung interviewt. Ob er nun ganz verkaufen und ein neues Start-up beginnen werde, wurde er gefragt. Nein, sagte er, noch nicht. „Der Kauf von Pearson gibt unserer Firma einen Wert von 230 Mio Dollar. Das Ziel ist, sie in drei Jahren auf eine Milliarde zu bringen. The clock is ticking – 1000 days, $ 1000 million“. Das Foto zeigte einen zufrieden lächelnden Ganesh, als habe er in ein paar Schritten die Welt umrundet. Er hatte nicht mehr viele Haare. Aber er trug immer noch ein T-Shirt.