Ich musste heute Morgen nur meine Zeitung öffnen, um anzuerkennen, dass es eine dieser Worthülsen ist, die nur den Zweck haben, an diesem Land nicht zu verzweifeln. Denn die täglichen Schreckensnachrichten entlarven dieses hübsche Paradox als Wunschdenken; sie sind unerbittlich in ihrer Beweislast, dass Indien heute weitgehend eine dysfunktionale Anarchie ist.
Vor drei Tagen brach in einem Vorort von Bombay ein siebenstöckiges Gebäude ein. Gestern berichteten die Medien über die Opfer: 75 Menschen, darunter 31 Kinder, kamen ums Leben. 60 wurden, mit schweren Verletzungen, lebend geborgen, über 100 werden noch vermisst. Heute kommen die Hintergründe zur Sprache, und sie sind fast noch deprimierender als die Opferzahlen. Denn sie zeigen, dass nicht nur die Fundamente dieses Gebäudes auf Sand gebaut waren, auch die Grundpfeiler staatlicher Institutionen sind es.
Geschmierte Beamte
Das Haus wurde in drei Monaten errichtet. Bevor ein Betonboden trocken war, wurden bereits Pfeiler für den nächsten gegossen; leere Zementsäcke am Ort der Katastrophe weisen sie als Ausschussware aus, rostige Stahlstäbe stecken in den eingestürzten Betonpfeilern. Man kann sich vorstellen, wie der Sand/Beton-Mix aussah. Als die eben erst gelegte Decke im siebten Stock am Donnerstagabend einbrach, knickte innert einer Minute Stock um Stock ein und begrub 250 Menschen unter sich.
Ein Dutzend Bewilligungen wären vor Baubeginn nötig gewesen, keine einzige war eingeholt worden. Dafür wurden Beamte für die Wasser- und Stromanschlüsse geschmiert, damit die Bauherren dort arme Schlucker – die Bauarbeiterfamilien, Rickschafahrer, Bettler – dort unterbringen konnten. Sie wurden in den fünf unteren Stockwerken einquartiert, während oben noch gebaut wurde. Es war nicht etwa Nächstenliebe.
Notariell beglaubigte Zertifikate wiesen sie zwar als Eigentümer aus, aber bei Bauabschluss würden sie dann von den eigentlichen Besitzern vor die Tür gesetzt. Sie dienten der Baufirma als rechtlicher Schutzschild gegen einen allfälligen Bauabriss. Diese würde dann das Gericht anrufen und mit Hinweis auf die Bewohner auf Jahre hinaus eine Stillhalte-Verfügung erwirken.
90 % der Gebäude sind illegal
Thane ist ein Vorort von Bombay, das erste Auffangbecken für die Migranten aus dem bitterarmen Hinterland. Die Stadt ist inzwischen auf vier Millionen Einwohner gewachsen – und sie alle wollen ein Dach über dem Kopf. Jeder Geschäftsmann, der über Cash verfügt – die Erbauer des Lucky Compound sind Alteisenhändler – beginnt zu bauen, auf Schwemmland, über Abwasserkanälen, am Rand des Staatswalds.
Der Lucky Compound, für den keine Besitzdokumente vorliegen, steht am Fuss eines Hügels, wo sich jedes Jahr Monsunwasser sammelt. Die Reaktion des Staats könnte mit dem Befehl des Polizeichefs aus dem Film "Casablanca" umschrieben werden: "Round up the usual suspects." Regierungschef Chavan flog per Helikopter aus Bombay ein, versprach Schmerzensgeld für die Hinterbliebenen, suspendierte ein paar mittlere Beamte, setzte eine Untersuchungskommission ein. Was könnte er sonst tun? Neunzig Prozent der Gebäude im Mumbra-Quartier, sagte ein Umweltaktivist der "Times of India", sind illegal. Chavan bestätigte dies indirekt bei der Parlamentsdebatte am nächsten Tag: 490‘000 Gebäude in Thane seien unbewilligte Bauten, über 1000 seien akut gefährdet – und immer noch bewohnt.
Massenhafte Legalisierung illegaler Häuser
Im benachbarten Bombay sind die Verhältnisse ähnlich, wenn auch nicht in dieser dramatischen Häufung. Allein in den letzten 14 Monaten habe die Gemeindebehörde über 21‘000 Beschwerden über illegale Bauten erhalten, erklärte ein Sprecher. Meist sind es Nachbarn oder Umweltaktivisten, die sich in die hoffnungslose Schlacht werfen. Auch beim Lucky Compound hatte ein Nachbar das Unglücksbauwerk von Beginn fotografisch dokumentiert, und die Bilder verschiedenen Behörden gesandt – ohne Erfolg. Nur einmal sei kurz ein Abriss-Detachement vorbeigekommen, habe eine Ziegelwand eingerissen, und sei wieder abmarschiert – Aufgabe erledigt, Trinkgeld kassiert.
Es ist nicht nur Korruption, die jedes Eingreifen lähmt. Wie ist es logistisch möglich, eine halbe Million illegale Gebäude zu leeren und abzureissen? Wie geht eine Behörde von einigen Dutzend Beamten 21‘000 Klagen nach, wie setzt die Polizei Evakuationen durch, wie wappnen sich Gerichte gegen die Flut von Einsprachen von gutgläubigen Bewohnern? Politiker greifen daher wieder und wieder zu einem Allheilmittel: Sie beschliessen die massenhafte Legalisierung illegaler Strukturen; das letzte Mal vor einigen Jahren, als alle unerlaubten Häuser aus der Zeit vor 2000 per Federstrich legal wurden.
Ans Grauen gewöhnt
Selbst der Tod von bisher 75 Menschen wird weder Öffentlichkeit noch Staat wirklich aufrütteln. Zwischen 2002 und 2011 sind im Bundesstaat Maharashtra 785 Gebäude eingestürzt, 756 Personen kamen dabei um. Ihr Sterben entzündete kein Fanal. Der fahrlässige Tod von Menschen ist in Indien längst keine Grenzerfahrung mehr, so sehr hat es sich an die tägliche Statistik des Grauens gewöhnt. Jeden Tag sterben in Bombay im Durchschnitt allein bei Zugunfällen fünfzehn Menschen – beim Überschreiten der Geleise, beim Herunterfallen aus fahrenden Zügen, durch Stromschlag beim Fahren auf dem Wagendach. Es ist ein "fait divers", das nicht mehr aufrüttelt, ebenso wenig wie jenes der sechs Patienten, die täglich in Ambulanzen sterben, weil diese auf dem Weg ins Krankenhaus im Verkehr steckenbleiben.
Selbst der morgendliche (und unendlich privilegierte) Blick auf das weite Meer kann die tägliche Gewissenserforschung der Zeitungslektüre nicht lindern. In derselben Ausgabe lese ich, dass am Vortag eine Dschunke aufgebracht wurde, mit Schmuggelgut aus Dubai. Doch nicht Küstenwache oder Marine hatten das Boot gesichtet; Fischer hatten die Polizei alarmiert. Das Boot hatte den dreifachen Sicherheitsgürtel von Marine, Küstenwache und Strandpolizei ohne Problem unterlaufen. Nach den Terroranschlägen von 2008 war er "dicht" gemacht worden, weil sowohl die Attentäter wie die Waffen und Munition mit solchen Booten an Land kamen.
Wieder ein neues Formular
Die Marine hat Besseres zu tun, als die Küste reinzuhalten. Seit zwei Tagen sitze ich in Bombay fest, weil sie das ganze Hafenareal abgeriegelt hat. Der Bootsverkehr in die Küstendörfer im Süden, darunter meines, ist stillgelegt. Nein, nicht um Schmuggler oder Terroristen zu fassen.
Operettenhaft soll der feierliche Einlauf eines Segelboots wiederholt werden, das bereits vor zwei Wochen eine Weltumsegelung beendet hat. Derweil verbringt meine Frau die Wartezeit auf nutzbringende Art. Zum fünften Mal ging sie während meiner Zeitungslektüre zum Postamt, um das Postscheckkonto ihres kürzlich verstorbenen Vaters auf den Namen ihrer Mutter umzuschreiben. Auch heute wurde sie zurückgeschickt, mit einem neuen Formular. Als sie in der Warteschlange stand, humpelte ein Bettler auf sie zu, laut wehklagend. Er hatte eine klaffende Wunde am Fuss, mit Lumpen schlecht verhüllt. Das staatliche Bhabha Hospital in der Nähe, verpflichtet, arme Leute gratis zu behandeln, habe ihn abgewiesen, weil er kein Geld hatte.