Kein Lebensweg führt schnurstracks geradeaus. Kaum etwas verläuft linear. Umwege gehören zum menschlichen Dasein wie die Schwalbe zum Frühling. Doch ohne Ziel verliert sich der Weg selbst. Das gilt auch fürs Führen. Den Unternehmensweg gibt es nur, weil es ein Ziel gibt. Die Frage lautet immer: wohin? Das zeigt sich in den Metaphern: Sie reichen vom Bergsteigen über den Orientierungslauf bis zur Schiffsnavigation. Eines ist ihnen gemeinsam: Das Ziel ist bekannt, der Weg offen.
Von Kapitänen lernen
Angesagt ist darum Lernen an Vorbildern. Zu ihnen gehört der Weltumsegler Ferdinand Magellan, reiht sich der Südpolentdecker Roald Amundsen, zählt der Polarforscher Sir Ernest Shackleton. Alles Seefahrer und Kapitäne mit Visionen und Zielen, mit Prinzipien und Entschlusskraft, mit Mut und Ausdauer – und dem Talent, sich selber zu führen und andere für die gemeinsame Aufgabe zu gewinnen.
Das kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunderts
Das ewige Eis lockte. Doch die Arktis war entdeckt und der Südpol an der Jahreswende 1911/12 in einem dramatischen Wettlauf zwischen dem Norweger Roald Amundsen und dem Engländer Robert Falcon Scott erobert. Was blieb Ernest Shackleton übrig? 1914 wollte er als Erster mit seiner Crew die Antarktis von Küste zu Küste durchqueren. Immerhin 2‘900 km Fussmarsch durch einen unerforschten Kontinent. Eine waghalsige Polarexpedition.
Mit 27 Mann an Bord 1914 stach er Anfang August 1914 in See. Kurz vor dem Ziel blieb seine „Endurance“ im Packeis stecken. Es gab kein Vorwärts, es gab kein Zurück. Es gab nur Warten und Ausharren im kalten Würgegriff des Eises und in unwirtlicher Gegend. Das Schiff driftete ab. Dem tonnenschweren Druck hielt es auf Dauer nicht stand; es zerbarst und sank. Die Crew rettete sich aufs Eis und errichtete mehrere Notlager.
Die Eisscholle brach; mit drei Rettungsboten erreichten die 28 Männer nach drei Tagen in sturmdurchpeitschter See eine rettende Insel. Sie lag fernab jeder Schiffsroute. Dank einer fast unglaublichen Bootsfahrt holte Shackleton zusammen mit vier Mann Hilfe auf der 1500 km entfernt gelegenen Walfangstationen Südgeorgien. Nach 635 Tagen im Eis wurde auch die restliche Crew gerettet. Kein Einziger verlor auf dieser Expedition sein Leben. Nach Reinhold Messner vollbrachte Shackleton „das kühnste Abenteuer des 20. Jahrhunderts“.
Das grosse Führungsvorbild Sir Ernest Shackleton
Vom englischen Polarforscher können Führungskräfte Wesentliches lernen. (2) Auch 100 Jahre später. Viele seiner Prinzipien sind noch heute gültig: von der utopischen Einfachheit dessen, was Goethe „das alte Wahre“ genannt hat – und das in der Praxis doch immer wieder neu und schwer zu realisieren ist.
Der Polarforscher lebte vor, wie wichtig das Klima an Bord und in seinem Team war: der berühmte Esprit d'Équipe. Mit Empathie und Strenge zugleich. Nur so konnte er alle Crewmitglieder aus dem ewigen Eis retten. Lange bevor ihn eine moderne Managementlehre propagierte, wirkte er nach dem Grundsatz: You manage things; you lead people – und nicht umgekehrt. Für Shackleton bedeutete Führen: in den Menschen Leben wecken und sie inspirieren, sie animieren und unterstützen, in ihnen Hoffnung und Zuversicht wecken – mit seinen Werten und seinem Wissen, mit seinem Können und seiner Sprache. So konnte er mit Menschen Ziele erreichen – wenn nicht die Antarktis durchqueren, so doch die gesamte Mannschaft gesund aus der tödlichen Falle herausführen.
Führen ist eine menschliche Verpflichtung
Eines ist entscheidend: Verständnis und damit Verstehen sind nur ein Teil der Führung. Das wusste Shackleton. Führung muss man leben. Vorleben. Als Vorbild. „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst!“ Führung bedeutete dem Polarforscher einerseits eine hohe technische Aufgabe mit kluger Ressourcenplanung; Führung war ihm aber auch eine menschliche Verpflichtung – aus einer humanen Haltung heraus. Jeder war ihm wichtig.
Führen ist eine anspruchsvolle Aufgabe, eine komplexe Wechselwirkung zwischen involvierten Personen und konkreten Sachverhalten. Einfache Rezepte gibt es nicht. Ein Gemeinplatz zwar, aber wie fast jeder Gemeinplatz wahr. Führen ist auch keine Entweder-oder-Mentalität. Ein solches Polaritätsdenken gibt es nur bei einem martialischen 0815-Typ. Es ist sehr oft ein Sowohl-als-auch. Das zeigte sich bei Shackleton ganz deutlich. Vorgesetzter sein und führen, das ist – vielleicht etwas salopp formuliert – eine Funktion zwischen Zeus und Zampano, zwischen Mutter Teresa und Miss Marple, zwischen Franz von Assisi und James Bond.
Der Blick für Mehrdeutigkeit
Warum? Weil wir immer mit Widersprüchen konfrontiert sind und darum Unsicherheiten aushalten müssen. Soll ich dem Intellekt folgen oder der Intuition vertrauen? Soll ich rational gesteuerte Entscheide treffen oder mich eher emotional leiten lassen? Dies aus der Erkenntnis heraus, dass „aus blossem Verstand nie Verständiges, aus blosser Vernunft nie Vernünftiges gekommen ist“, wie es der Dichter Friedrich Hölderlin ausgedrückt hat.
Viele Dilemmata lassen sich nicht auflösen. Führungskräfte müssen sie aushalten, reflexiv handhaben und daraus die Spannkraft für die tägliche Aufgabe gewinnen.
Leadership heisst darum auch Gegensätzlichkeiten integrieren. Führen bedeutet, die einzelnen Teile und das grosse Ganze beachten und den zentrifugalen Tendenzen zentripetale Kräfte entgegensetzen. Im Wissen: Sinn kommt aus dem Ganzen, Handeln erfolgt in den Teilen. Das gelang dem englischen Forscher auch in schwierigster, ja fast hoffnungsloser Lage.
Die Crew als Kapital
Eines der Geheimnisse von Shackletons Führungskunst bestand in der Auswahl seiner Schiffscrew. Er suchte nach Menschen, die in bestimmten Bereichen besser als er selbst waren. Optimistisch sollten sie sein, teamfähig und loyal – mit einer Leidenschaft für die Aufgabe. Shackleton selbst war ein Meister im „Teambuilding“. Es gab weder Fraktionierungen noch Privilegierungen. Sein Team war stark, weil sie sich die Mitglieder gegenseitig stärkten. Hier wirkte die Integrationskraft des Kapitäns.
Als guter Chef sprach Shackletons mit den Leuten, er redete nicht nur. Reden ergibt ein leeres Gerede; aus Sprechen ergeben sich Gespräche. Das war die direkte Führung: sein Stil, seine Kommunikation, sein Feedback. Diese direkte Führung stimmte mit der indirekten überein – mit den Strukturen, Prozessen und der ganzen Organisation der Arbeitsabläufe während der Expedition.
Zwei anregende Publikationen
Führen kann man nicht auf einfache Weise erklären. Doch der Hang zur Simplifikation ist da. Ein Blick auf die Bücherliste zeigt es: Einfache Vorschläge zu finden ist die illusionäre Triebfeder vieler Publikationen. Die beiden erwähnten Schriften beleuchten die anspruchsvolle Aufgabe humaner Leadership. Es sind empfehlenswerte Bücher, besonders auch für Führungskräfte mit sozialer Verantwortung für Mitmenschen und Mitarbeitende.
Sich argumentierend und reflektierend auf das einlassen, was Führungskräfte täglich tun, verbindlich über den prinzipiellen Auftrag und das operative Handeln nachdenken, allein und gemeinsam – auch das gehört zur Führungsarbeit. In diesem Denken, Nachdenken, Querdenken zeigt sich vielleicht die Dialektik von Kennen und Erkennen, von Kenntnis und Erkenntnis. Ein solcher Prozess ist notwendig und führt weiter. Er berührt die Kernfrage jeder Führung: Wofür stehe ich als verantwortliche Führungsperson über das Organisatorisch-Administrative hinaus ein? Die zwei Schriften geben wertvolle Impulse.
(1) Maurer Christa (2014), Mit Magellan und Captain Cook auf der Kommandobrücke. Was moderne Führungskräfte von erfolgreichen Kapitänen lernen können. Mering: Forum Verlag
(2) MorelI Margot & Capparell Stephanie (2012): Shackletons Führungskunst. Was Manager von dem grossen Polarforscher lernen können (10. Aufl.). Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt