«C’è ancora domani», das höchst erfolgreiche Regiedebüt von Paola Cortellesi, erzählt im Stil des italienischen Neorealismus von der Emanzipation einer Ehefrau in einem toxischen Familienbund in Rom. Der Film spielt 1946 – und trifft den Nerv der Zeit.
Ein Heteropaar erwacht im Schlafzimmer seiner bescheidenen Wohnung im Soussol eines Mehrfamilienhauses in Rom. Beim Aufstehen verpasst der Mann der Frau eine Ohrfeige und es erklingt das frohgemute frühlingshafte Canzone «Aprite le finestre» von Fiorella Bini. Das schockartig-irritierende Intro ist ballettartig inszeniert, im zur Handlungszeit 1946 üblichen 4:3-Kinoformat. Nach einigen Minuten weitet sich das Bild zur heute gängigen Leinwandgrösse.
Sofort ist klar: «C’è ancora domani», gedreht in Schwarzweiss, ist etwas Besonderes, erinnert formal, ästhetisch, narrativ an den bis heute betörenden Neorealismus des italienischen Films, der vom marxistischen Denken und künstlerisch vom französischen Poetischen Realismus beeinflusst war. Er wurde ab den frühen Vierzigerjahren entwickelt, noch während der faschistischen Mussolini-Diktatur.
Exemplarisch seien zwei frühe Meisterwerke genannt: Luchino Viscontis «Ossessione» (1942) und Roberto Rossellinis «Roma, città aperta» (1945). Die Reihe der Pioniere lässt sich etwa um Namen wie Federico Fellini, Michelangelo Antonioni oder Vittorio de Sica verlängern. Alles Filmgranden, die das Massenmedium Kino genuin bereicherten und mit ihrem Schaffen Künstlerinnen und Künstler bis heute weltweit inspirieren.
Toxischer Alltag
Dieser Einfluss zeigt sich auch in «C’è ancora domani» von Paola Cortellesi (50). Sie ist im südlichen Nachbarland seit langem enorm populär. Als scharfsinnige Komikerin, Sängerin, Darstellerin und Autorin in Film, Radio und Fernsehen. In «C’è ancora domani» inkarniert sie bravourös die Rolle der Hauptfigur Delia, zudem zeichnet sie als Skript-Koautorin. Ihr Werk, das im Oktober 2023 das Filmfestival Rom eröffnete, lockte bis Ende Jahr allein in Italien rund fünf Millionen Menschen in die Kinosäle. Eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte! Zudem erhielt die komödiantische Tragödie national wie international begeisterte Kritiken. Mittlerweile ist der Film auch im Ausland zu sehen und erregt mit seiner so originären wie originellen Umsetzung eines momentan vieldiskutierten Themas grosses Aufsehen.
Paola Cortellesi taucht ein in den toxischen, chaotischen Alltag einer fünfköpfigen Familie aus der Unterschicht. Es ist das Jahr eins nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Ende der deutschen Besatzung und zwei Jahrzehnten Mussolini-Faschismus. Die Wunden der Menschen in der ewigen Stadt sind selbstverständlich noch nicht vernarbt; weder körperlich noch in den Köpfen, schon gar nicht in den Herzen. Für viele sind es «magere Zeiten», im Wortsinn. Es mangelt oft am Nötigsten, um über die Runden zu kommen.
Immer zu Diensten
Delia weiss, was das konkret bedeutet, als Gattin des tumben, despotischen, machohaften Ivano, mit dem sie drei Kinder hat: Tochter Marcella ist zwanzig, zwei Buben sind im Volksschulalter – verzogene, rotzfreche Bengel, dauernd herumfluchend, sich in den Haaren liegend. Vor der Mama und der Schwester haben sie null Respekt. Sie kommen leider nach dem Papa und dessen Vater Ottorino; letzterer hat Geld und Besitz verspielt und besetzt jetzt ein Zimmer im engen Appartement, kränkelnd, polternd, nörgelnd.
Wie die Eingangsszene andeutet, wird in «C’è ancora domani» von Männergewalt gegen Frauen erzählt, psychisch und physisch. Die davon betroffene Delia ist eine gepflegte, fleissige, umsichtige Persönlichkeit. Für Ivano und den Schwiegervater ist sie trotzdem vorab eine Dienstkraft, von der das erwartet wird, was eine anständige verheiratete Frau ihrer Meinung nach zu tun hat: immer zu Diensten sein, bis hin zur übergriffigen Demütigung, ohne Aufmucken.
Ivano hat diese schäbige patriarchalische Haltung von Papa Ottorino übernommen und nötigt Delia, zusätzlich zur aufreibenden Hausarbeit für das Einkommen aufzukommen. Deshalb macht sie als Pflegehilfskraft Hausbesuche und nimmt andere mies bezahlte Gelegenheitsjobs an. Ivano versucht zudem, ihr wie ein Zuhälter jede Lira abzuknöpfen, damit er im Ausgang Bella Figura machen kann, in Bars oder bei Bordellbesuchen.
Wegweisendes Jahr für Italien
«C’è ancora domani» spielt, wie erwähnt, im Jahr 1946, das für Italiens Zukunft wegweisend war. Am 2. Juni wurde per Referendumsabstimmung entschieden, dass die Nation – seit der Vereinigung Italiens 1861 eine Monarchie – zur Republik werden sollte. Mit einer Verfassung, mit angepassten Bürgerrechten, vor allem für die italienischen Frauen, die diesbezüglich arg benachteiligt waren. Die Filmhandlung setzt kurz vor dieser zukunftsweisenden Entscheidung ein. Im Gegensatz zu anderen Frauen kann sich Delia im Vorfeld nicht aktiv am Abstimmungskampf beteiligen, weil sie Tag für Tag unter schwierigen Umständen darum bemüht ist, das Wohl der Ihren zu wahren. Und sich selber vor häuslicher Unbill zu schützen.
Im Quartier Testaccio kennen sich viele Bewohnerinnen und Bewohner schon aufgrund der gemeinsam überstandenen Krisenjahre gut. Verbergen lässt sich kaum etwas. Auch nicht, dass Ivano, wenn er mit Delia tagsüber allein zuhause ist, ostentativ die Fenster zum Hinterhof zusperrt. Dort trifft man sich zum Schwatz und manche ahnen, dass in der Wohnung im Soussol eher kein kuscheliges Tête-à-Tête stattfindet. Wenn Delia später, wie gewohnt apart aufgemacht und mit stoischer Gelassenheit, das Haus verlässt, um ihren Arbeiten nachzugehen oder auf dem Markt einzukaufen, wird sie von allen beäugt. Auch darum, weil sich Spuren wie etwa blaue Flecken unter der Frühlingskleidung nicht immer kaschieren lassen.
Tristesse pur?
Also Tristesse pur für Delia? Nicht ganz, denn Kraft und etwas Zuversicht gibt ihr die geliebte Tochter Marcella. Sie ist intelligent, selbstbewusst, lernbegierig, kritisch. Mit zwanzig steht sie an der Schwelle zum Erwachsenenleben und ist schwärmerisch verliebt. In Giulio, den auf den ersten Blick adretten Sohn einer mittelständischen Wirtefamilie.
Das Techtelmechtel fällt im Viertel auf und bald ist – wie es die Konventionen einfordern – in den Elternhäusern die Rede von Heirat. Bei einem Essen will man sich besser kennenlernen, das Weitere besprechen. Nur: Was ein Grund zur Freude wäre, wird, nicht völlig unerwartet, zu einem von skurril-peinlichen Momenten getrübten Treffen. Die Familie des Bräutigams wirkt blasiert. Ivano kann nicht verbergen, dass er in der Familien-Zusammenführung egoistisch die Chance wittert, seinen ramponierten Ruf und sozialen Status aufzupeppen.
Dummheit, Ignoranz, Gewalt
Das alles wirkt plausibel. Weil Paola Cortellesi, Schauspielerin und Regisseurin in Personalunion, durchaus im Sinn des Neorealismus ganz nahe an ihre sperrigen Charaktere und deren soziales Umfeld heranrückt. Das Allzumenschliche wird authentisch sichtbar. Man ist im Kino nicht nur dabei, sondern mittendrin, kann nachvollziehen, dass Delia ab sofort seismographisch beobachtet, wie sich das Rollenverhalten des jungen Pärchens verändert. Bald spürt sie, dass sie handeln muss, damit die Tochter nicht ins selbe Beziehungs-Schlamassel schlittert wie sie selbst.
Ein auffälliges Stilmerkmal in «C’è ancora domani» ist Paola Cortellesis Visualisierung von Gewalt. Vom dokumentarischen, vermeintlich abschreckend realistischen Herzeigen expliziter Szenen hält sie wenig. Sie deutet die Handlungen nur an, verfremdet sie choreographisch und nimmt ihnen so die verstörende Schärfe. Gewaltbereitschaft, Dummheit, Ignoranz spiegeln sich allerdings in den Gesichtern, der Gestik, der Körpersprache von Protagonisten wie Ivano oder Ottorino. Paola Cortellesi weiss, was sie einem auch altersmässig heterogenen Kinopublikum zumuten will und kann. Ohne es zu überfordern, aber auch ohne die Ernsthaftigkeit ihrer Botschaft zu verharmlosen.
Oral History als Skript-Basis
Paola Cortellesis Film basiert übrigens auf ihren eigenen Oral-History-Kindheitserinnerungen aus Gesprächen mit ihren Grossmüttern, Tanten und Eltern. Eine Historikerin prüfte die historische Faktenlage und zusammen mit eigenen Ideen entstand so ein frisch wirkendes Erzählkonzept mit ineinander verzahnten Konfliktszenarien.
Natürlich stellt man sich mit dem Schlussakt vor Augen die Frage, ob und wie es der Regisseurin gelingen wird, das Ganze ohne platte Deus-ex-Machina-Effekte aufzulösen. Das klappt, weil einige raffiniert ausgelegte Handlungsfäden symbolstarke Nebenfiguren einführen, die für die couragierte Delia zu Rettern gegen Resignation und Depression werden.
Da ist Marisa, die emanzipierte Freundin, die sich ihr Leben besser eingerichtet hat, auch in Bezug auf das Verhältnis zu Männern. Oder Nino, ein introvertierter Automechaniker, dem man sofort abnimmt, dass er Delia seit ewig begehrt, um sie wirbt, in ihr Gefühle wachruft, die sie verdrängt. Und William, ein afroamerikanischer Soldat der alliierten, in Rom stationierten US-Streitkräfte. Mit seinen Kameraden hat er eine Vermittlerrolle inne, versucht im Dialog mit den Leuten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen oder ihnen mit kleinen Geschenken wie einem Stück Seife oder US-Schokolade eine Freude zu machen. William und Delia begegnen sich ab und an, es wird sogar mit An- und Abstand etwas geflirtet. Delia reagiert nachvollziehbar zurückhaltend, weil sie nicht ins Gerede kommen will. Der sensitive William respektiert das, nimmt aber intuitiv wahr, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Drum bietet er Hilfe an. Für den Fall der Fälle!
Thrillerhaftes Finale
Das empathische Trio Marisa, Nino und William liefert Mikro-Puzzleteilchen für die Glaubwürdigkeit des hinreissenden, hochemotionalen, thrillerhaft inszenierten Film-Finals: Delia und Ivano bewegen sich im öffentlichen Raum aufeinander zu, wie in einem Duell. Es kommt zu einem verblüffenden Zusammentreffen der beiden, das aus der Unmittelbarkeit des Geschehens heraus auf ein gesellschaftspolitisches, übergeordnetes Ereignis verweist – und die Story auf eine zeitlose Ebene hievt.
Paola Cortellesi zu ihrem Film: «Er spielt in der Vergangenheit, ist aber für die Zukunft gedacht.» Das passt: Die Zukunft für das Bessere ist jetzt. Und Morgen ist auch noch ein Tag für mehr davon – «C’è ancora domani».