Siebzehn Jahre sind vergangen, seit Indien und Pakistan Atombomben zur Explosion gebracht haben. Beide Länder versicherten damals, das Prinzip der Abschreckung werde – wie im Fall des West-Ost-Konflikts – dafür sorgen, dass auch dieser Krieg ein kalter bleiben würde.
Gefährlichster Brandherd der Welt
Von wegen. Raja Menon, früher Vize-Admiral in der Indischen Kriegsmarine, winkt ab: „In den 45 Jahren Stand-off in Zentral-Europa kam es gerade einmal zu einem kleinen Feuergefecht am Eisernen Vorhang“ schrieb er in einer kürzlichen Rezension. Die Furcht vor der Eskalation zu einem Atomkrieg sei immer präsent gewesen. Nicht so zwischen Indien und Pakistan: „Entlang der indisch-pakistanischen Grenze hören die Feuergefechte nie auf.“ Es sei kein Wunder, dass andere Mächte im Subkontinent den gefährlichsten Brandherd der Welt erblicken.
Ich erinnere mich an den Besuch eines Dorfs direkt an der Grenze zwischen dem indischen und pakistanischen Panjab, dreissig Kilometer von Jammu entfernt. Es war die Geschichte vom Basmati, der im Pulverdampf reif wird. Mitten durch die friedlichen Reisfelder verlief der Grenzzaun. Soeben waren die ersten Dorfbewohner wieder zurückgekehrt, nachdem sie mehrere Monate in einem Flüchtlingscamp gelebt hatten. Der Grund für ihr Wegbleiben war unübersehbar: Die Fassaden der einfachen Steinhäuser entlang der Dorffront waren von Einschusslöchern übersät.
Ein Bauer erzählte mir, nach einer zweijährigen Feuerpause habe es im Frühjahr 2005 konstant wieder Feuergefechte gegeben. Aber nun sei Erntezeit, und beide Seiten hätten vereinbart, die Ernte einfahren zu lassen. Dann gelte wohl wieder ‚Schuss frei!’ Früher sei es anders gewesen. Damals besassen sie noch Land drüben in Pakistan, Pakistaner hatten Parzellen hier in Indien. Zur Erntezeit konnten sie frei hin- und hergehen.
Krieg trotz atomarer Abschreckung
Es sind nicht nur Schiessübungen, mit denen sich die Soldaten die Langeweile vertreiben. Es war nur ein Jahr nach den Atomversuchen, als pakistanische Rangers 1999 klammheimlich die Waffenstillstandslinie nördlich von Kargil überschritten und die Gebirgszüge besetzten, die den Zugang zu Ladakh beherrschen. Es kam zu einem kurzen und heftigen Artilleriekrieg. Er endete, als Bill Clinton den pakistanischen Premierminister Nawaz Sharif nach Washington bestellte und ihm die Leviten las. Dessen Generäle waren so wütend über Sharifs Nachgeben, dass sie ihn sechs Monate später ins saudische Exil schickten.
Der aktuelle Anlass zu diesem anekdotischen Blick zurück ist eine neue Studie im (atomwaffenkritischen) Bulletin of Atomic Scientists in Chicago. Gemäss den beiden Autoren Hans Kristensen und Robert Norris fliegen nicht nur Kugeln über die Basmati-Felder, während die letalen Atomwaffenarsenale allmählich rosten. Vielmehr besitzt Pakistan inzwischen über 130 Atomsprengköpfe, Indien deren 106. Beide Länder verfügen zudem über diversifizierte Trägersysteme – Bomber, Raketen, Marschflugkörper. Im Fall Indiens kommen noch nuklearbestückte U-Boote hinzu.
Beide sind also fleissig dabei, sich gegenseitig hochzuschaukeln. Erst vor einigen Monaten erprobte Pakistan seine jüngste Lenkwaffe, die Langstreckenrakete Shaheen 3. Mit einer Reichweite von 2750 Kilometern erreicht sie praktisch die ganze indische Landmasse. Indien ist inzwischen dem exklusiven Nuklearmächte-Klub beigetreten, mit Meldepflichten und Stillhaltegeboten. Aber da Pakistan draussen vor der Tür bleibt und weiterhin aufrüstet, darf Indien ganz offiziell nachziehen.
Gefährliches Kalkül mit dem Terror
Seit den beiden Atomwaffenversuchen am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich das Gefahrenpotential mit dem Aufkommen globaler Terrornetzwerke sprunghaft erhöht. Dies gilt gerade für Pakistan, das den terroristischen Untergrund, statt ihn zu bekämpfen, zu einem Element der nationalen Sicherheitsstrategie gemacht hat. Was daran denn falsch sei, fragten mich jeweils pakistanische Journalisten: Auch Präsident Reagan habe die Mudschaheddin in Afghanistan ‚Freiheitskämpfer’ genannt, obwohl sie Terroristen waren.
Bisher ist die Rechnung der Generäle aufgegangen. Die Terroranschläge von 2008 in Mumbai blieben ohne kriegerische Folge. Die Atomraketen blieben in ihren Silos.
Inzwischen steht aber auch auf der anderen Seite des ‚Basmati’-Vorhangs eine macho-nationalistische Regierung. Premierminister Narendra Modi hält sich in seiner Rhetorik zwar zurück. Aber er tut dies gemäss dem alten Ratschlag, die Faust in einen weichen Leder-Handschuh zu stecken. Als es im Frühjahr zu Angriffen eingeschleuster Terrorgesellen gegen Grenzgarnisonen kam, war die Reaktion Delhis erstaunlich zahm. Erst später sickerte durch, dass indische Geschütze Ausbildungslager im pakistanischen Kaschmir zerstört hatten.
Das Eskalationsrisiko bleibt akut. Im letzten Juli kam es im indischen Gurdaspur zu einem zwölfstündigen Feuergefecht zwischen der Armee und drei Jihadis, das zehn Tote zurückliess. Kurz darauf wurde auf einer Eisenbahnbrücke in der Nähe eine Sprengladung gefunden und gerade noch entschärft. Praveen Swamy, Verteidigungskorrespondent des Indian Express, ist überzeugt, dass eine Zugsexplosion für Narendra Modi der casus belli gewesen wäre.
USA tanzen auf zwei Hochzeiten
In bewährter Manier – mit dem Drohfinger – brachte auch Präsident Obama den Zwischenfall zur Sprache, als er im Oktober Nawaz Sharif empfing. Er forderte ihn auf, von den Sticheleien abzulassen. Der Drohfinger gehört zum Repertoire des Medientheaters in Washington, welches das abgekartete Spiel kaschiert, in dem die Amerikaner auf zwei Hochzeiten tanzen. Sharif spielt darin nur den Briefträger.
Der Hauptakteur ist sein Namensvetter Raheel Sharif, Oberkommandierender der pakistanischen Armee. Als dieser im letzten Herbst Washington besuchte, erhielt er für seine ‚weise Führung’ den amerikanischen Legion of Merit-Orden. Auch bei seinem anstehenden Besuch wird der Drohfinger in der Hosentasche bleiben. Stattdessen darf General Sharif eine weitere Staffel F-16-Bomber in Empfang nehmen.
Pakistanisch-saudische Allianz
Was verbirgt sich hinter diesem Eiertanz, der sich als Diplomatie kaschiert, und der Washington immer mehr dazu verführt, aus Angst vor dem Terrorismus undemokratische (Militär-)Regime zu unterstützen – und mithilfe islamistischer Regierungen den Islamismus ausrotten zu wollen? Es ist ein offenes Geheimnis, dass der wichtigste Geldgeber des pakistanischen Atombomben-Programms Saudi-Arabien heisst. Dies schafft Verpflichtungen. Erst im letzten April schwor das Parlament in Islamabad in einer feierlichen Erklärung, Pakistan werde weiterhin die territoriale Integrität der islamischen Brudernation schützen.
Mit anderen Worten: Pakistan ist der nukleare Schutzschild des islamischen Staats Saudiarabien. Die nuklearbestückten Shaheen-3-Raketen sind nicht nur auf Indien gerichtet, sondern auch nach Westen – sprich: Iran. Die perverse Stärkung des pakistanischen Atomwaffenprogramms ist der Preis, den Washington bezahlen muss, damit die Saudis Obamas Iran-Deal akzeptierten.
So kommt es, dass Washington mit Blick auf die Ostgrenze den Premierminister Pakistans auffordert, nicht mit der Atomkeule zu fuchteln. Aber es schaut schamvoll weg, wenn Islamabad weiterhin nuklear aufrüstet, mit Geld aus Riyadh und technischem Know-how aus Beijing. Derweil wird Delhi mit Versprechen ziviler Nukleartechnologie und gemeinsamen militärischen Manövern bei Laune gehalten.
Unsicherer Nachbar Afghanistan
Man muss Pakistans Diplomatie bewundern: Seit drei Jahrzehnten vermag sie Washington in Schach zu halten, indem es mit zwei tödlichen Waffen fuchtelt – Terror und Atombomben. Nicht nur dies: Es lässt sich deren Unterhalt von Washington auch noch bezahlen. Denn wehe, wenn die IS-Jihadisten sich einmal den morschen islamischen Staat Pakistan vornehmen.
Bisher ist es den Generälen dank ihrer Kontrolle der hausgemachten Terrornetzwerke gelungen, IS-inspirierte Strömungen zu verhindern. Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Daesh auch in Afghanistan breitmacht. Der westliche Nachbar war seit je Pakistans soft underbelly – nicht einmal eine völkerrechtlich gesicherte Grenze gibt es zwischen ihnen. Auf diesem apokalyptischen Tier mit dem weichen Unterleib reiten auch die USA – und mit ihnen der Westen. Und sie können nicht mehr abspringen.