Was international als Friedensformel für den Israel-Palästina-Konflikt gilt, das wollen die Beteiligten nicht: eine Zweistaatenlösung. Kommt sie in der Zeit nach Netanjahu? Die Verflechtung der Dauerkrise in die nah- und mittelöstlichen Konfliktherde stimmt wenig zuversichtlich.
Das inzwischen über hundert Tage andauernde Blutvergiessen von Israelis und Palästinensern hat weltweit Bestürzung und Ratlosigkeit ausgelöst und Befürchtungen vor einer noch schlimmeren Eskalation entfacht. Um so überraschender und erstaunlicher ist es, dass inzwischen im Nahen und Mittleren Osten wie auch weltweit immer offener die Idee einer «Zweistaatenlösung» für den Konflikt diskutiert und auch propagiert wird.
Damit verbunden ist die Forderung nach einer internationalen Friedenskonferenz, wie sie von Spanien bereits offiziell vorgeschlagen wurde. Auch Saudi-Arabien scheint diese Idee übernommen zu haben, nachdem es in der Vergangenheit wiederholt erfolglose Vorstösse in Richtung Friedensreglung unternommen hatte. Und Katar, das in den letzten Jahren die Hamas regelmässig finanziell unterstützt hatte, gilt heute schon als Vermittler, nachdem es geholfen hat, einen Teil der israelischen Geiseln in der Hand der Hamas gegen palästinensische Häftlinge aus israelischen Gefängnissen auszutauschen.
Blockierte Zweistaatenlösung
Gegen eine Zweistaatenlösung haben sich bisher nur die Hauptakteure der gegenwärtigen Kriegssituation und ihre ideologischen Verbündeten ausgesprochen. Am deutlichsten der israelische Ministerpräsident Netanjahu. Er brachte es sogar fertig, US-Präsident Biden nach Monaten der Kontaktlosigkeit anzurufen und den Vorschlag einer Friedenskonferenz mit Ziel Zweistaatenlösung mit einem klaren «No» abzuschmettern.
Netanjahu dürfte klar sein, dass dieser Weg ans Ende seiner politischen Laufbahn führt. Und das, obwohl er ja der Chef einer so radikal rechtsnationalistischen Koalition ist, wie Israel sie nie zuvor erlebt hat. Natürlich ist er mit knapper Mehrheit gewählt worden, aber inzwischen gilt es als sicher, dass es nach einem Ende des gegenwärtigen Krieges zu Neuwahlen und einer Niederlage für «Bibi» (der einst populäre Kurzname Netanjahus ist schon lange ausser Gebrauch) kommen wird.
Ob ein Ende von Netanjahus Regierung den erhofften Friedensprozess erleichtern wird, bleibt offen. Die Diskussion «Was danach?» ist im Gange; ermutigende und zuverlässige Prognosen gibt es jedoch bisher keine. Auch auf der Seite der Palästinenser mangelt es bisher an Befürwortern der neuen Bewegung in Richtung auf eine ausgehandelte Kompromisslösung: Da sind einmal die Anhänger religiös-nationalistischer Ideologien, die eine Zweistaatenlösung immer schon abgelehnt haben, weil es für sie nur einen Staat Palästina geben darf, ohne Platz für die Juden. Diese Fanatiker – unter ihnen die Hamas, aber auch andere Gruppen, die teilweise in oder abhängig von anderen Staaten der Region agieren, hatten bisher im Gazastreifen die Macht, nachdem sie die PLO von dort vertrieben hatten.
Die PLO als grösste palästinensische Bewegung war im Oslo-Abkommen von 1993 mehr oder weniger offen damit beauftragt worden, eine Regierung zu bilden und das im Sechstagekrieg von Israel besetzte Westjordanland schrittweise zu einem palästinensischen Staat zu machen – so wie er bereit 1947 im Teilungsplan der Vereinten Nationen konzipiert worden war. Daraus wurde nichts, unter anderem weil die nationalistische Likud-Partei Netanjahus dies durch die Gründung jüdischer Siedlungen, Annexionen und diverse Schikanen immer unmöglicher machte. Zudem verkündete Netanjahu lauthals, er werde alles unternehmen, um einen Palästinenserstaat zu verhindern. Eine Drohung, die er offenbar weiterhin aufrechterhält und die Israel neben Gaza einen weiteren gefährlichen Kriegsschauplatz beschert.
Gefahr von Hizbullah an Israels Nordgrenze
Hinzu kommen weitere Krisenherde. Da ist die schiitische Hizbullah im Libanon: Vom Iran gegründet und viele Jahre lang mit Waffen aller Art beliefert, hatte sie längst begonnen, im Land der Zedern politische Partei zu sein. Sie ist die stärkste Kraft im Beiruter Parlament und die einzige, der es erlaubt blieb, nach dem Ende der Bürgerkriege ihre bewaffneten Einheiten zu behalten. Diese haben sich längst im Südlibanon entlang der Grenze breitgemacht und sind zu einem zusätzlichen Gegner Israels geworden. Aus religiös-nationalistischen Gründen fordert Hizbullah schon lange die Zerstörung Israels oder – ziviler formuliert – die Befreiung der Heimat der Palästinenser.
Offenbar spielt aber auch eine Bringschuld gegenüber dem Sponsor Iran eine wichtige Rolle: Die Hizbullah ist schiitisch wie der Iran, und als direkter Nachbar könnte sie Israel ein gefährlicher Gegner bei kriegerischen Auseinandersetzungen werden. Die letzten Wochen haben dies mehr als deutlich gezeigt: Hizbullah-Chef Nasrallah hat sich wiederholt hinter die Hamas gestellt und ihr militärische Hilfe durch die Eröffnung einer neuen Front mit Israel versprochen.
Bisher halten sich die Feindseligkeiten gerade noch in Grenzen, aber es hat bereits Tote auf beiden Seiten von Israels Nordgrenze gegeben. Ein Hamas-Führer wurde (offenbar von Israel) in Beirut ermordet und Israel tötete unweit von Damaskus einen wichtigen Führer der iranischen Revolutionsgarden in einem syrischen Lager für iranischen Waffennachschub für Hizbullah.
Zwielichtige Rolle Irans
Teherans Präsident Raissi hat den israelischen Angriff auf das Schärfste verurteilt und Israel mit Vergeltung gedroht. Aber der Iran hat auf absehbare Zeit offenbar nicht vor, sich direkt in die gegenwärtigen Kämpfe mit Israel einzumischen. Allerdings steht Teheran durchaus hinter den Angriffen der jemenitischen Huthis auf internationale Tankschiffe. Irans Regierung behauptet, diese Schiffe lieferten Öl nach Israel. In Wirklichkeit sind sind die meisten der attackierten Schiffe im Besitz internationaler Reedereien – ein Grund dafür, dass die USA und Grossbritannien begonnen haben, Einrichtungen der Huthis im Jemen anzugreifen.
Sollte der Konflikt im Roten Meer weiter eskalieren, dann wird der Krieg so schnell kaum zu Ende gehen. Die Überlebensaussichten der unter Hamas-Kontrolle verbliebenen israelischen Geiseln dürften weiter sinken und die Verwirklichung des Traums von einer Zweistaatenlösung eine Fata Morgana bleiben.
Letztere umso mehr, als auch aus praktischen Gründen kaum vorstellbar ist, wie eine solche Zweistaatenlösung überhaupt entstehen könnte: auf der einen Seite das international anerkannte Israel, auf der anderen ein Staatsgebilde aus zwei voneinander getrennten palästinensisch-arabischen Gebieten, dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Erst recht hoffnungslos mutet eine Beilegung der Streitigkeiten um Jerusalems Tempelberg an, auf dem sich heilige Stätten der Juden und der Moslems befinden.