In den ersten Tagen der jährlich stattfindenden „Zwei Sessionen“ – dem Nationalen Volkskongress (Parlament) und der Konsultativkonferenz – zeigten die amtlichen Luftmessungen bedenkliche Werte, nämlich zwischen 100 und 350 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter. Der von der Weltgesundheits-Organisation WHO empfohlene Maximalwert: gerade einmal 25 Mikrogramm. Tausende von Abgeordneten aus dem ganzen Land konnten so auf dem Weg zur Grossen Halle des Volkes am Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen am eigenen Leib, beziehungsweise mit der eigenen Lunge erleben, was es heisst, unter solchen Umweltbedingungen zu arbeiten und zu atmen. Dabei ist Peking längst nicht die am schlimmsten von der Luftpest betroffene Stadt Chinas. Selten nur schafft es nämlich die Hauptstadt unter die Top-20 der verdrecktesten Städte des Reichs der Mitte.
„Zwei Sessionen“
Seit Jahr und Tag ist es auch kein Geheimnis, dass nach amtlichen Zahlen der Gesundheitsbehörden jährlich eine halbe Million Menschen frühzeitig wegen verschmutzter Luft sterben. In seinem Rechenschaftsbericht vor dem Nationalen Volkskongress unterstrich denn Premierminister Li Keqiang einmal mehr, wie wichtig ein pfleglicher Umgang mit der Umwelt für das Wirtschaftswachstum im Allgemeinen und für die Bürgerinnen und Bürger im Besonderen sei.
Rechtzeitig 48 Stunden vor Beginn der „Zwei Sessionen“ wurde auf der Streaming-Plattform Sohu und der chinesischen Youtube-Version Youku, wohl kaum zufällig, ein 104 Minuten langer Umwelt-Dokumentarfilm aufgeschaltet. Wie sich bald zeigen sollte, war die mit 1 Million Yuan (umgerechnet 150‘000 Franken) privat finanzierte Dokumentation unter dem Titel „Unter der Glocke“ oder „Unter dem Firmament“ (Qiong Ding Zhi Xia) ein durschlagender Erfolg. Der Film wurde 120 Millionen Mal angeklickt und in den Sozialen Medien heftig diskutiert. Auf Sina Weibo wurden 280 Millionen Post deponiert.
„Unter dem Firmament“
Die Autorin des Films ist die 39 Jahre alte, bekannte Fernsehjournalistin Chai Jing, die jahrelang für das Staatsfernsehen CCTV gearbeitet und sich mit kritischen Reports hervorgetan hat. Den Anstoss für ihr neustes Werk war die Geburt ihrer Tochter. In diesem sehr persönlichen Werk mit eindrücklichen Bildern und unaufgeregten aber auf den Punkt gebrachten Interviews wird ein alarmierendes Umwelt-Bild skizziert. Betroffene kommen zu Wort, aber auch etwa Direktoren von Dreckschleudern von Stahl-, Kohlen- oder Ölkonzernen sowie Provinz-Politiker. Im Film wird nichts Neues gezeigt. Aber die eindrückliche Bildsprache, das Engagement der Autorin und die zusammenfassende Einordnung zeigen bei den Umweltgebeutelten Chinesinnen und Chinesen Wirkung.
„Unter dem Firmament“ ist auch deshalb erfolgreich, weil das Thema Umwelt seit Jahren sowohl in der öffentlichen als auch in der veröffentlichten Meinung hoch aktuell ist. Mittlerweile gibt es strenge Umwelt-Gesetze und Auflagen. Das Problem allerdings ist deren Durchsetzung. China wird im Westen gerne als Diktatur bezeichnet. Doch was die autoritären Herrscher in Peking beschliessen, wird noch lange nicht überall in den Provinzen umgesetzt. Deshalb schickt die Pekinger Zentrale wie zu Kaisers Zeiten für alles Mögliche – also auch, wie im Film gezeigt wird, für die Umwelt – Inspektoren im Land herum.
Die Provinz- und Lokalpolitiker kennen natürlich die Umwelt-Gesetze, doch sie stehen vor einem Dilemma. Eine umweltschmutzige Fabrik zum Beispiel müsste eigentlich geschlossen werden mit der Folge von Abertausenden von Arbeitslosen. So entscheiden sich dann die Verantwortlichen oft für „soziale Stabilität“, d.h. keine Unruhen, und gegen die Umwelt. Das fördert nicht selten die Karriere, denn „Harmonie“ im Land ist oberstes Gebot. Die Dokumentation von Chai Jing schärft das Bewusstsein für solch vertrackte Probleme.
„Was können wir tun?“
Kaum im Netz, wurde „Unter dem Firmament“ auch von den staatlichen Medien hoch gelobt. Im Sprachrohr der Partei, „Renmin Ribao“ (Volkszeitung), erläuterte Filmemacherin Chai Jing das Ziel ihrer Dokumentation: „Was ist Smog? Wo kommt er her? Was können wir tun?“. Die Website der Volkszeitung kooperierte auch bei der Veröffentlichung der Dokumentation. Andere Staats- und Parteimedien verlinkten ihre Sites mit dem Film. Umweltminister Professor Chen Jining sandte Chai Jing gar ein Gratulations-SMS und äusserte an einer Pressekonferenz „Bewunderung“.
Zwei Tag nach Veröffentlichung des Dokumentarfilms kam dann etwas überraschend die Anweisung der Medienüberwachungs-Behörden, die „Berichterstattung herunterzufahren“. Nochmals einen Tag später liess sich die Zensurbehörde in Shanghai mit folgenden Worten an die Redaktionen vernehmen: „Websites, die bereits darüber berichtet haben, müssen ihre Artikel aus dem Netz nehmen und die Diskussion beenden“. Der Film war zu diesem Zeitpunkt auf Youku immer noch abrufbar. Unterdessen hatten 175 Millionen „Unter der Glocke“ heruntergeladen.
„Auf der Stelle!“
Kaum hatte die Konsultativkonferenz begonnen und zwei Tage vor Beginn des Nationalen Volkskongresses platzte den Medienüberwachern offenbar der Kragen. „Um nicht abzulenken von den wichtigen Themen des Nationalen Volkskongresses“, liess die Zensurbehörde verlauten, „muss auf der Stelle sämtliche Berichterstattung über den Film und seine Schöpferin eingestellt werden“. Das im Ausland erscheinende Portal „China Digital Times“ machte wie immer Geheimes wenigstens im Ausland öffentlich und publizierte eine der üblichen Zensur-Ukas an die Redaktionen: „Sämtliche Äusserungen, die geeignet sind, Zweifel an der Regierung zu säen oder diese zu attackieren, müssen blockiert und gelöscht werden. Diese Anweisungen müssen geheim bleiben“.
Verpasste Chance
Warum, muss man sich fragen, wird die öffentliche Diskussion um einen Dokumentarfilm unterbunden, der den Nerv aller Chinesinnen und Chinesen, Staats- und Parteichef Xi Jinping und Premier Li Kejiang eingeschlossen, getroffen hat? Wovor fürchtet sich die Regierung bei einem Thema, das in aller Mund ist und bei einem Film, der die gleiche Position wie Partei und Regierung vertritt? Zu nervöse und zu vorsichtige Beamte, die es durchaus gibt, sind wohl nicht die gültige Antwort. In einem Staat und in einer Gesellschaft, in der die allmächtige Kommunistische Partei das Informations-Monopol beansprucht und durchsetzt, geht es vielmehr um die Deutungshoheit der KP. Schade, denn die Stossrichtung von Premier Li Kejiang in Sachen Umwelt hätte sich ideal mit dem Ziel von „Unter dem Firmament“ verbinden lassen. Eine verpasste Chance.
Ein weiterer Grund für die Zensur sind wohl die „Zwei Sessionen“. In den zehn Tagen der Beratungen muss alles „Ruhe und Ordnung“ sein. Ablenkungen sind nicht erwünscht. Friede, Freude, Eierkuchen also. Harmonie pur. Selbst Bettler werden während dieser Tage aus dem Stadtbild entfernt. Dissidente sowieso. Die Diskussion um die Umwelt in China ist mit all den Zensurmassnahmen natürlich nicht beendet. Im Gegenteil. Trotz massiver Internet-Überwachung nämlich sind Chinas Medien kein geschlossenes System mehr. Es gibt Spielräume.
„Schwatzbude“?
Das einzige, was die Zensoren erreicht haben: Im Westen wird wenig über den Nationalen Volkskongress dafür umso mehr über den Dokumentarfilm von Chai Jing berichtet. Schade. Westliche Korrespondenten schwadronieren seit Jahrzehnten vom Nationalen Volkskongress und der Konsultativkonferenz als „Schwatzbude“, „Scheinparlament“ oder als „Kopfnicker-Versammlung“. Klar, es ist nicht Westminster, der Bundestag, the Congress oder das Berner Parlament. Dennoch lohnt sich genaueres Hinsehen durchaus. Ohne eurozentrische Scheuklappe. Gerade heute.