Fast eine Woche ist vergangen, seit in Kaschmir ein Suizidtäter einen SUV in den Bus eines Truppenkonvois rammte. Vierzig Soldaten der paramilitärischen Central Reserve Police Force (CRPF) verloren ihr Leben. In der Folge kam es zu einer Welle von Trauerkundgebungen, Protesten, Ausschreitungen, namentlich gegen Kaschmirer ausserhalb ihrer Heimatregion.
Landesweiter Zorn
Die Opfer des Anschlags stammten aus allen Teilen Indiens, und traditionsgemäss wurden sie sogleich in ihre Heimatdörfer zur Bestattung zurückgeführt. Die lokalen Trauerfeiern am Sonntag und Montag wurden zum Brennpunkt für erneute Arbeitsniederlegungen und Boykotte öffentlicher Dienste, die bis heute anhalten. Am Dienstag wurde Bombay zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage offiziell stillgelegt, die Kinos geschlossen, die Tore der Banken, Gerichte und Grossmärkte waren verriegelt.
Die sonst tief zerstrittenen Parteien stellten sich fast einmütig hinter die Regierung. Premierminister Modi, sonst nicht verlegen um lautstarke Worte, hatte Mühe, mit seiner Rhetorik dem landesweiten Zorn Ausdruck zu geben.
Wie eine Kriegserklärung
Das Ausmass der Empörung sowie die ersten diplomatischen Massnahmen zeigten, dass das Attentat wie eine Kriegserklärung Pakistans empfunden wurde. Die Regierung stellte der Armee eine Carte Blanche aus, und Modi doppelte mit der Drohung nach, die Zeit für Gespräche sei nun vorbei.
Die meisten „vertrauensbildenden Massnahmen“ wurden ebenfalls zurückgenommen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts wurden diese – Bus- und Zugverkehr, Handelsrestriktionen, Kulturaustausch, Sportereignisse – zu einer schmalen, aber einigermassen stabilen Basis einer Annäherung.
Die jüngste war ein Pilger-Korridor, den Pakistan für die Sikhs in seinem Grenzgebiet einzurichten bereit war. Damit würden sie von Indien aus direkt eines ihrer Heiligtümer erreichen können. Auch dieser wird sich nun wohl zu den zahllosen verwitterten Grundsteinen für eine friedliche Nachbarschaft gesellen.
Die Handschrift des Militärs
Das Attentat von Awantipora zeigt unmissverständlich die Handschrift des pakistanischen Militärstaats. Die Jaish e-Mohammed, die sich sofort zur Tat bekannte, gehört zu jenen grossen militanten Organisationen, die zwar offiziell verboten sind, aber im ganzen Land unter einem Decknamen frei auftreten. Sie tragen oft einen Decknamen, geben sich aber keine Mühe, ihre wahre Identität dahinter zu verstecken.
Bei der Jaish geht die schützende Hand des Staats bis auf ihren Beginn im Jahr 1999 zurück. Ihr Gründer, Masood Azhar, war ein ehemaliger Frontkämpfer im Gefolge von Osama Bin Laden in Afghanistan, der von dort in den Kaschmir-Untergrund wechselte. 1994 wurde er von der indischen Armee gestellt, aber 1999 mittels der Entführung einer Indian Airlines-Maschine freigepresst. Er gründete darauf die Jaish e-Mohammed, ohne dass der Staat einen Finger rührte.
Nochalance
Und wenn der Militärstaat den Finger rührt, dann um Azhar – unter der Bezeichnung „Schutzhaft“ – Protektion zu gewähren; zum Beispiel vor dem indischen Geheimdienst, der bald noch mehr Gründe haben sollte, ihn aufzuspüren.
Denn die Jaish zeichnete sich durch grossangelegte Attentate mit Signalwirkung aus – sei es der Angriff auf das indische Parlament im Jahr 2001, das Eindringen in eine indische Luftwaffenbasis im Punjab oder ein Armee-Camp im Norden von Kaschmir.
Ebenso charakteristisch ist die stolz verkündete Urheberschaft, aber auch die Nonchalance, mit welcher der pakistanische Staat den Verdacht einer offiziellen Kollusion beiseite wischte. Nach der dreisten „Besetzung“ des Luftwaffen-Stützpunkts gab der damalige Premierminister Nawaz Sharif die Jaish-Urheberschaft sogar offiziell zu. Er versprach den Indern eine gemeinsame Untersuchungskommission – ein Vorschlag, den seine Generäle gar nicht zur Kenntnis nahmen.
„Death by a thousand cuts“
Der Anschlag vom 14.Februar ist also nur der letzte einer Serie von sorgfältig geplanten – und, wenn man will, erfolgreichen – Kriegshandlungen. Wie seine Vorgänger demonstriert dieser den hohen Grad an organisatorischer Präzision, einer langen Planungszeit und beträchtlichen Ressourcen an Geld, Waffen und Sprengstoff.
Auch sie können als Indizien einer staatlich abgesegneten Kriegsstrategie gelesen werden. Sie könnte lauten: Pakistan muss das krasse militärische Ungleichgewicht gegenüber Indien mit dem „Ausbluten durch tausend kleine Stiche“ kompensieren. „Nicht-staatliche Akteure“sind die Schutzschicht, die eine Eskalation zu einem kriegerischen Flächenbrand verhindern sollen.
„Death by a thousand cuts“ war die Strategie, die im benachbarten Afghanistan die Mudschaheddin gegen die Sowjets und die Taliban gegen die USA mit Erfolg angewandt haben. Die Architekten des Siegs über die beiden Weltmächte waren aber nicht Afghanen, sondern es ist der pakistanische Militärgeheimdienst ISI.
Indien im Visier
Es war Pakistan, das den Mudschaheddin sein Territorium zur Verfügung stellte: als Aufmarschgebiet ebenso wie als sichere Rückzugszone, für den Nachschub ebenso wie als Transitland für das Rauschgift, das den Krieg mitfinanzierte. Bei den Taliban war diese Rolle noch entscheidender: Die Taliban waren die gelehrigen „Islamschüler“, die, in den Flüchtlingslagern von Peshawar und Quetta aufgewachsen, später in den staatlich unterstützten Madrassen in ihre Kämpferrolle hineinwuchsen.
Es erstaunt daher nicht, dass indische Beobachter im jüngsten Kaschmir-Attentat eine Kausalbeziehung zum bevorstehenden Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan herstellen. Mit den zwei afghanischen Sieger-Trophäen und der unausweichlichen Machtübernahme durch die Taliban kann es sich die pakistanische Armee nun leisten, so der Terror-Experte Ajay Sahni, den alten Erzfeind Indien wiederum stärker ins Visier zu nehmen. Und wie in Afghanistan wird sie versuchen, sich aus einem direkten und offenen Konflikt herauszuhalten.
Drohung mit Selbstmord
Man kann sich eine gewisse Bewunderung über so viel Chuzpe nicht versagen: Zwanzig Jahre unterliefen die Generäle systematisch die westliche Afghanistan-Strategie und verhinderten eine Pax Americana. Und dennoch verstanden sie es, weiterhin ein zähneknirschendes Washington als grössten Geldgeber an sich zu fesseln.
Wie brachten sie dies fertig? Moskau wie später auch Washington hatten sich gehütet, den Afghanistankrieg mit Bodentruppen nach Pakistan hineinzutragen. Die Generäle mussten nur mit dem Meltdown ihres nuklearbestückten Staats drohen, um dies zu verhindern. Der amerikanische Politologe Stephen Cohen fand dafür das treffende Bild eines High Noon-Shootouts: Der eine Schütze hält die Pistole drohend ... an die eigene Schläfe.
Terror statt offener Krieg
Auch in Kaschmir wird Pakistan versuchen, einem offenen Krieg aus dem Weg zu gehen, da es einen solchen unweigerlich verlieren würde. Dafür bietet sich ein Stellvertreter-Konflikt an, durch Einsatz von Mordkommandos und Suizid-Attentätern, sowie der Unterstützung einer einheimischen Intifada.
Die andere diplomatische Waffe zur Vermeidung eines offenen Kriegs ist auch hier das Fuchteln mit der Atomwaffe. Es soll sicherstellen, dass es höchstens zu einem begrenzten konventionellen Konflikt kommt, weil das gegenseitige Aufwiegeln sonst aus dem Ruder läuft. Der kurze Grenzkrieg in den Bergen von Kargil vor knapp zwanzig Jahren war ein – erfolgreiches – Beispiel für die Wirksamkeit dieser Abschreckung.
Rat- und Konzeptlosigkeit
Wird sich Narendra Modi diesem Denkschema unterwerfen und keinen Krieg vom Zaun brechen? Wird er es bei einigen militärischen „Revanchefouls“ und „Strafaktionen“ bleiben lassen, damit zumindest das eigene Publikum besänftigt wird und gleichzeitig kein Casus Belli daraus wird?
Dass die Generäle in Rawalpindi mit den beiden Trümpfen – Stellvertreterkrieg und A-Bombe – bisher richtig gepokert haben, zeigt sich auch daran, dass Indien in all den Jahren nicht fähig war, der pakistanischen Strategie mit einer eigenen Gegenversion zu begegnen.
Aber es ist genau diese Rat- und Konzeptlosigkeit, die eine Gefahr darstellt. Denn sie könnte eine nationalistische Regierung mit Macho-Allüren provozieren, blind loszuschlagen. Man kann nur hoffen, dass die eingebauten Checks & Balances der indischen Demokratie besser funktionieren als jene in der ältesten Demokratie der Welt.