Nachher überlegen Sie sich die Sache, durchdenken Sie sie gründlich. Wählen Sie dann immer noch das Gleiche? Es ist keine leichte Frage, und sie wird schwieriger, je länger und je genauer man darüber nachdenkt. Was ist Ihnen wichtiger, das Vaterland oder ein Mensch, und zwar ein Mensch der Ihnen nahe steht? Das Vaterland gab Ihnen Geborgenheit, eine Bürgergemeinschaft, in der sie sich eingebunden, geborgen, sicher, wohl, beheimatet fühlen. Ihr Freund gab Ihnen Herzlichkeit, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, Wärme, eine innige Verbundenheit. Was ist ihnen wichtiger, was können Sie besser mit Ihrem Gewissen vereinbaren?
Für den politisch eher nach rechts tendierenden Platon war der Fall klar. Er gab dem Vaterland den Vorrang, und er tat dies derart absolut, wie das im heutigen Westeuropa wohl nur noch wenige Leute gutheißen würden.
In seinem Dialog Kriton begründet der zum Tode verurteilte Sokrates seinem Freund Kriton, weshalb er die von diesem mit allen nötigen Schmiergeldern bereits genauestens vorbereitete Flucht aus dem Gefängnis nicht machen werde. Er habe - erläutert Sokrates - sein ganzes Leben lang immer und überall für vorbehaltlose Gesetzestreue plädiert, jetzt könne er nicht durch eigenen Gesetzesbruch gleichsam sein ganzes Leben desavouieren.
Er rechnet Kriton vor, was das Vaterland alles für seine Bürger, also auch für ihn, Sokrates, leiste: Es habe ihn „zur Welt gebracht, auferzogen, unterrichtet und ihm alles Gute mitgeteilt“. Rhetorisch fragt er Kriton: „Weißt du nicht wieviel höher als Vater und Mutter und alle andern Vorfahren das Vaterland geachtet ist und wieviel ehrwürdiger und heiliger bei den Göttern?“ Man müsse es mehr ehren als den Vater, und „was es zu leiden auflegt ganz ruhig leiden“ und „im Kriege und vor Gericht und überall tun, was der Staat gebietet oder das Vaterland.“
Höchstens könne man das Vaterland davon „überzeugen, was eigentlich Recht sei“ (Kriton I, 51a-c). Aber: „Achte weder die Kinder, noch das Leben, noch irgend etwas anderes höher als das Recht.“ (a.a.O 54 b). Eine Unklarheit entsteht dadurch, dass Sokrates manchmal vom Vaterland, manchmal vom Recht spricht und man nicht genau erkennen kann, ob er beide Begriffe als austauschbar verwendet oder einen (nicht definierten) Unterschied macht.
Andrer Meinung als Platon war offenbar der etwas ältere Sophokles, Zeitgenosse von Perikles. In seiner Tragödie „Antigone“ lässt er die von Sokrates postulierte Meinung bezeichnenderweise durch einen Diktator, durch Kreon aussprechen: “Wem höher als sein Vaterland die Freunde stehn, der ist für mich nichts wert” (Verse 182f). Da gibt es nicht die geringste Unklarkeit. Wer den Freund höher schätzt als das Vaterland, der ist nichts wert, wobei Kreon, wie jeder Diktator, im Grunde sich selber für das Vaterland hält.
In direktem Gegensatz zu Kreon schrieb der britische Schriftsteller E. M. Forster, in dessen Essay „What I believe“ ich zum ersten Mal auf diese grundsätzliche Frage stiess: „Wenn ich wählen müsste, entweder mein Vaterland zu verraten oder meinen Freund, so würde ich hoffentlich Manns genug sein, mein Vaterland zu verraten.“
Hannah Arendt, die Einiges über Krieg, Vaterland und Freundschaft wusste, setzte in ihrem Essay „Über die Menschlichkeit in finsteren Zeiten“ den Freund nicht gegen das Vaterland, sondern gegen die Wahrheit: „Die Menschlichkeit wird in finsteren Zeiten nur in der Freundschaft aufrechterhalten. Sie ist, wie bei Lessing, wichtiger als die Wahrheit; eine Freundschaft einer heilvollen oder unheilvollen Wahrheit zu opfern, ist im eigentlichen Sinn unmenschlich.“
Hätte Hannah Arendt Forsters Postulat gutgeheißen, also den Begriff „heilvolle oder unheilvolle Wahrheit“ durch das Wort Vaterland ersetzen lassen? Vermutlich schon. Doch wie dem auch sei – im heutigen Europa würden wohl die Menschen, sofern sie sich nicht einer Kirche oder einer Ideologie extrem verbunden fühlen, dem Postulat Arendts (und Lessings) vorbehaltlos zustimmen.