Seit 2005 ist es Tradition, dass am Vorabend der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse im Römer zu Frankfurt der deutsche Buchpreis verliehen wird. Heuer geschah dies zum 10. Mal. Ausgezeichnet wurde der vor allem durch seine Lyrik bekannt gewordene Autor Lutz Seiler, der mit „Kruso“ seinen ersten Roman vorgelegt hatte und der schon seit Wochen als heimlicher Favorit galt. Dass das Erscheinen des Buches mit dem 25-Jahr-Jubiläum des Mauerfalls zusammenfiel, dürfte dabei eine gewisse Rolle gespielt haben, ausschlaggebend sollte das Datum aber nicht gewesen sein. Denn der Roman „Kruso“ besticht durch seine literarische Qualität ebenso wie durch eine Aktualität, die über die Bedeutung von Jahrestagen weit hinaus geht.
Die beste Wahl seit Tellkamps „Turm“, kommentierte der „Spiegel“ letzte Woche und hatte damit absolut recht. Wie Tellkamps 2008 ausgezeichneter Roman „Der Turm“ ist auch Lutz Seilers „Kruso“ ein bedeutendes Stück Literatur, aus persönlicher Erfahrung heraus geschrieben und diese doch immer wieder weit hinter sich lassend. Die Parallelen zwischen den beiden Werken sind in der Tat eklatant: Beide Autoren sind in der DDR gross geworden, Tellkamp in Dresden, Seiler in Gera, und bei beiden Autoren bildet die DDR-Wirklichkeit den äusseren Rahmen für eine die Tagesaktualität sprengende Erzählung, die dort endet, wo auch die DDR selbst ihr Ende fand: am 9. November, dem Fall der Berliner Mauer. Und doch ist weder „Der Turm“ noch „Kruso“ ein sog. Wende-Roman, auch wenn dies immer wieder behauptet wird und angesichts des historischen Datums bis zu einem gewissen Grad auch nahe liegt.
Turm und Insel
Tellkamp wie Seiler ging es jedoch nicht darum, den zwangsläufigen Niedergang eines Staates namens DDR zu beschreiben. Sie interessierten sich vielmehr für die Menschen und ihr tägliches Leben und dafür, wie diese mit den Gegebenheiten der Diktatur umgingen: ohne allzu grosse innere Überzeugung zwar, aber meist auch ohne offenen Widerstand.
Beide Autoren fanden für dieses Dasein im Windschatten der Diktatur eindrucksvolle Metaphern, den Turm und die Insel, die vor allem deshalb überzeugen, weil sie fest in der Topographie des Landes verortet sind. Tellkamps „Turm“, das ist jenes Dresdner Villenviertel hoch über der Elbe, das zu Zeiten der DDR ein Hort des Geistes gewesen war und bis heute seinen leicht elitären Gründerzeit-Charme bewahrt hat. Seilers Insel heisst Hiddensee und ist die kleine Schwester von Rügen, die schon in den zwanziger Jahren Künstler und Intellektuelle angezogen hatte und später ihrer exponierten Lage wegen vielen Unzufriedenen als Ort des Rückzugs und des Ausbruchs galt. An beiden Orten werden mittlerweile spezielle Führungen angeboten, die den fiktiven Personen und Schauplätzen ein Gesicht und einen Namen geben.
Den Toten ein Denkmal setzen
Nebst diesen offensichtlichen Parallelen gibt es zwischen den beiden Werken aber auch offensichtliche Unterschiede, die sowohl Form wie auch Inhalt betreffen. Tellkamp erzählt eine weit verzweigte Familien- und Freundschaftsgeschichte, die sich über einen grösseren Zeitraum hin erstreckt. Seiler schildert die Geschicke einer kleinen, in sich geschlossenen Gemeinschaft, die sich ganz auf den Sommer 1989 konzentriert. Tellkamp brilliert mit Bildung und Wissen und einer hochartifiziellen Sprache. Seiler ist poetischer, phantastischer und setzt Bilder, wo die Sprache an Grenzen stösst. Tellkamps Romanfiguren sind Akademiker und Intellektuelle, die es trotz innerer Reserve gegenüber der herrschenden Doktrin in der Gesellschaft zu Ansehen und Würde gebracht haben. Seilers Inselbewohner hingegen sind Aussteiger und Ausgestossene, die dem System den Rücken gekehrt haben und vom Leben aus der Bahn geworfen worden sind.
Sie haben auf Hiddensee Zuflucht gefunden, aber auch einen Ausgangspunkt für den lang ersehnten Sprung in die Freiheit. Lutz Seiler selbst war einer von ihnen, als er einen Sommer lang als Hilfskraft in der Gaststätte „zum Klausner“ arbeitete und miterlebte, wie immer wieder DDR-Bürger versuchten, von Hiddensee aus übers Meer auf die nahe gelegene dänische Insel Mon zu gelangen. Tausende sollen es über die Jahre hinweg gewesen sein, die meisten wurden von der Küstenwache aufgegriffen und festgenommen. 200 kamen bei ihrem Fluchtversuch offiziell um. Wenn man Seilers Roman gelesen hat, weiss man, dass es wohl mehr waren. Sein Roman über den Insel-Sommer 1989 ist auch der Versuch, ein bis heute kaum bekanntes Stück DDR-Geschichte in Erinnerung zu rufen und den Toten von Hiddensee ein Denkmal zu setzen.
Freiheit, ohne Flucht, ohne Ertrinken
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum das Thema der Freiheit, der Freiheit unter den Bedingungen der Diktatur, in Seilers Roman eine so zentrale Rolle spielt. Seine Titelfigur Alexander Krusowitsch, genannt Kruso, hat es sich zur Aufgabe gemacht, den jungen Menschen, die auf die Insel kommen – den „Schiffbrüchigen“, wie er sie nennt – einen andern Weg in die Freiheit zu zeigen als den, der übers Meer ins Gefängnis oder in den sicheren Tod führt. Kruso selbst hat als Kind miterlebt, wie seine Schwester ins Wasser ging: ein Fluchtversuch? Ein Unfall? Wir wissen es nicht. Seither aber treibt ihn die Frage um, wie Freiheit möglich sei auch „ohne Verletzung der Grenzen, ohne Flucht, ohne Ertrinken“. In dem Germanistikstudenten Edgar Bendler, der seine Freundin bei einem Unfall verloren und daraufhin sein Studium geschmissen hat, findet er einen Leidensgenossen und Freund, mit dem er seine Ideen zu verwirklichen hofft. Kruso und Ed, Crusoe und Freitag – der Gleichklang des Namens ist weit mehr als ein Zufall.
Während Edgar, wie seinerzeit Lutz Seiler selbst, im „Klausner“ als Abwäscher arbeitet, sammelt Kruso Nacht für Nacht die Schiffbrüchigen ein, um sie am tödlichen Sprung in die Freiheit zu hindern. „Die Insel“, so heisst es an zentraler Stelle des Romans, „ist das Versteck, die Insel ist der Ort, wo man zurückkehrt in sich selbst… Niemand muss fliehen, niemand ertrinken. Die Insel ist die Erfahrung, die es ermöglicht, das Leben weiterzuleben, bis zu dem Tag, an dem das Mass der Freiheit in den Herzen die Unfreiheit der Verhältnisse mit einem Schlag übersteigt.“ Ein solcher Tag war der 9. November 1989. Mit ihm endet der Roman „Kruso“ ebenso wie seinerzeit Tellkamps „Turm“. Es ist der Tag, auf den die Romanhandlung in beiden Fällen zusteuert. Er ist aber nicht der Grund, warum Seiler und Tellkamp ihre Bücher geschrieben haben.
Keine Schwarz-Weiss-Malerei herkömmlicher DDR-Geschichten
Von Seilers Inselbewohnern heisst es einmal, sie hätten „das Land verlassen, ohne die Grenzen zu überschreiten“. Der Satz könnte auch in Tellkamps „Turm“ stehen. Es geht in beiden Fällen um Anpassung und Widerstand und um die feine Linie, die Opportunismus von offensichtlicher Feigheit trennt. Es geht um den Versuch, sich seine Würde zu bewahren, ohne sich mit dem System gemein zu machen, ohne aber auch offen mit ihm zu brechen. Und das ist es, was beide Romane weit über ihre literarische Qualität hinaus auch für westliche Leser so interessant macht. Beide geben sie Einblick in die Lebensbedingungen von Menschen in einem totalitären System, und beide zeigen sie, wie unterschiedlich man damit umgehen kann. Das ist von der Schwarz-Weiss-Malerei herkömmlicher DDR-Geschichten und DDR-Filme weit entfernt, konfrontiert aber so unmittelbar mit der Frage nach der eigenen Auffassung von Freiheit, dass sich auch frei geborene Bürger eines freien Landes davon betroffen fühlen müssen.
Lutz Seiler: „Kruso“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 480 Seiten, Fr. 33.90.