Präsident François Hollande konnte am Sonntag abend aufatmen. Eine absolute Mehrheit der Linken stand zwar praktisch fest, nicht aber, dass die Sozialisten mit einigen treuen Verbündeten allein darüber verfügen. Dies war in der V. Republik bisher nur einmal der Fall gewesen, nämlich 1981 nach dem Wahlsieg von Mitterrand. Der PS ist also nicht auf die Unterstützung des Front de gauche (Kommunisten und Linkspartei) angewiesen, der mit seinen 10 Sitzen keine Fraktion mehr bilden kann. Hollande muss auch nicht - wie seine Partei es voreilig tat - zu sehr auf die Grünen Rücksicht nehmen, auch wenn diese mit 20 Abgeordneten erstmals eine Fraktion haben werden. Dies könnte sich als wichtig erweisen, wenn die Regierung Spar- und Austeritätsmassnahmen durchsetzen muss - und jedermann erwartet solche in den nächsten Wochen und Monaten, zusammen mit einer Steuerreform, lies: Steuererhöhungen.
La Rochelle als Staatsaffäre
Die Stimmbeteiligung war mit 56 Prozent eher tief. 2002 lag sie auf der "Sarkozy-Welle" noch bei 60 Prozent. Dies hat aber den Sozialisten wenig geschadet. Zum Beispiel wurden alle ihre kandidierenden Minister und Ministerinnen gewählt, wenn auch manchmal knapp. Sie können damit in der Regierung verbleiben. Einen Überraschungserfolg erzielte die Ministerin Marie-Arlette Carlotti in Marseille gegen den bisherigen Abgeordneten Renaud Muselier von der Sarkozy-Partei Union pour un mouvement populaire (UMP), der in der Hafenstadt als einflussreicher Nachfolger von Stadtpräsident Gaudin, ebenfalls UMP, galt und seit 1993 den Sitz unangefochten innehatte.
Hingegen unterlag Ségolène Royal, die Präsidentschaftskandidatin der Sozialisten von 2007, in La Rochelle gegen den dissidenten Sozialisten Olivier Farloni. Dieser widerstand dem massiven Druck der Parteiführung, die ihn zum Rückzug zwingen wollte. Er wurde darin von Valérie Trierweiler in einem berühmt gewordenen Twitter unterstützt. Die Lebensgefährtin des Präsidenten - première dame also, wenn es einen solchen Titel in Frankreich gäbe - rächte sich damit an der früheren Partnerin von Hollande und brachte damit auch diesen und die Partei in eine unmögliche Situation. Nur gibt es keine Hinweise, dass diese lächerliche "Staatsaffäre" das Resultat in La Rochelle beeinflusst hätte. Royal wäre aber gerne Parlamentspräsidentin geworden und reagierte entsprechend mit Bitterkeit und Ausfälligkeit gegen den "Verräter" Farloni, den der PS nicht in seiner Fraktion haben will. Verloren hat auch der unermüdliche frühere sozialistische Kulturminister Jack Lang in den Vosges, dem viele Wähler endlich den Ruhestand gönnten.
Zerschlagene "republikanische Front"
Die UMP hat mit 213 Sitzen, bisher 320, ihr Gesicht einigermassen wahren können, da sie vor allem eins gefürchtet hatte: unter die symbolische Barriere von 200 Sitzen zu fallen. Parteisekretär Copé konnte am Wahlabend am Fernsehen trotz seinem professionellen Zynismus seine Sorgen aber nicht verbergen. Er selbst ist als Parteivorsitzender angefochten, unter anderem vom früheren Premierminister Fillon, der sich in einem sicheren Pariser Wahlkreis wählen liess. Er hat den Rechtskurs seiner Partei, die immerhin gaullistische Wurzeln hatte, auf Anweisung des auf rechtsextreme Wähler schielenden Sarkozy derart augenfällig den Gefilden des Front national angenähert, dass die Spannungen und Richtungskämpfe in der Partei offen ausbrachen und jetzt eine Klärung fordern. Der Spagat zwischen dem Zentrum und dem FN ist nicht länger auszuhalten. Mit seiner Losung "ni-ni" (weder-noch) vor der zweiten Wahlrunde hat Copé aber auch noch konsequent die sogenannte "republikanische Front" gebrochen, die bisher Tradition gehabt hat.
Sie besagt, dass in einem Wahlkreis, in dem ein rechtsextremer Kandidat in einer Dreierwahl antritt, der schlechter plazierte Sozialist oder Konservative verzichtet, damit die "republikanischen" Stimmen die parlamentarische Rechte oder Linke bevorzugen und sich nicht versplittern. Copé verwies dazu als Entschuldigung auf die extreme Linke (die Kommunisten), mit denen sich die Sozialisten ungestraft verbrüdern würden. Das ist historisch fragwürdig: die Kommunisten waren nicht ohne Grund nach dem Zweiten Weltkrieg die, auch von de Gaulle respektierte, stärkste Partei im Land. Es ist wahr: Mitterrand hat sie später wieder "umarmt", aber nur um sie besser zerschlagen zu können. Aber dazu brauchte es ein anderes politisches Talent, als Copé oder Sarkozy es haben.
Suche nach der neuen Rechten
Die ungeschriebene "republikanische Front" ist auf lokaler Ebene nie voll respektiert worden, weder von den Sozialsten noch von den Konservativen. Zudem betrieben auf der rechten Seite extremistische Sympathisanten seit der Existenz des Front national Annäherungsversuche, immer mehr assistiert von der "harten Rechte" der UMP - vor allem in Südfrankreich - , die nicht ausstehen kann, dass die arithmetisch schwächere Linke im Land gewinnen kann, solange die FN-Wähler und der FN selbst isoliert bleiben. Marine Le Pen, die Tochter des Parteigründers Jean-Marie Le Pen, versuchte von ihrer Seite her ebenfalls eine "Entteufelung" der Partei, zumindest nach aussen und oberflächlich und mit viel Häme gegen die UMP, die sie mit dem PS gleichsetzte, um den FN breiteren Wählerschichten salonfähig zu machen. Mit Erfolg.
Der Front national wird jetzt erstmals seit 15 Jahren wieder mit (nur) zwei Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten sein. Das letzte Mal war dies 1986 der Fall, als Mitterrand den Proporz einführte, um mit dem FN die Rechte zu schwächen. Der FN hatte sofort 35 Sitze, so viel wie die Kommunisten. Wegen des heutigen rigiden Majorzsystems (und der Wahlkreisaufteilung) gibt es keine gerechte parlamentarische Repräsentation der Parteistärken, so wie auch nicht in Grossbritannien. Zum ersten nimmt Einsitz für den FN Marion Maréchal-Le Pen in Carpentras, der 22jährigen, noch studierenden Enkelin des Parteigründers und Nichte von Marine, die selbst in ihrem nördlichen Wahlkreis knapp verlor. Eine Nachzählung wird stattfinden. Zum zweiten der Rechtsanwalt Gilbert Collard, dem der Gerichtssaal für sein Ego zu klein geworden ist, im südlichen Département Gard.
Das verschwundene Zentrum
Den Le Pen und Collard schwebt eine Neuinkarnation der patriotischen Rechte vor, unter Führung des FN, aber mit der UMP, die "zahlen muss" und ohne das Zentrum, das "verschwunden" sei. Bis zu den nächsten Wahlen von 2017 wird man somit noch auf allerlei Windungen vor allem bei der UMP, die das Zentrum vergessen hat, gefasst sein müssen. Leider ist ein Teil des politischen Zentrums in der Tat verschwunden. Der Präsident des MoDem (Mouvement démocratique), der liberale François Bayrou, hat die Wahl in seinem Stammland der Pyrénées-Atlantiques verloren. Seine Partei hat noch zwei Sitze im Parlament. Damit ist nicht mehr viel auszurichten. Bayrou hatte ebenfalls sein "ni-ni": weder rechts noch links. Er hat sich vor allem als das moralische und finanzielle Gewissen der rechten und jetzt der linken Regierung bewährt: Recht haben, aber nicht Recht bekommen. Zuletzt hatte er mutig gestanden, dass er Hollande wählen werde,weil er dessen Werte - nicht aber sein Regierungsprogramm - teile. Aber das kam in seiner Kleinpartei nicht gut an. Die anderen zentristischen Kleinstparteien haben dieses Problem nicht, sie sind der UMP hörig.
Ein Gewissen hätte Frankreich aber dringend nötig, denn die Machtfülle der Sozialisten ist jetzt enorm: Elysée, Nationalversammlung, Senat, alle Regionen ausser einer, Zweidrittel der Départements, die Mehrheit der Grossstädte. Aber das ist nicht alle Macht im Staat, wie Sarkozy während fünf Jahren ohne Regionen und Départements bewiesen hat - und was ihm zum Verhängnis wurde. "Majorité absolue" ist nicht "pouvoir absolu", sagte die Regierungssprecherin - eine Französin marokanischer Herkunft - am Sonntag und Premierminister Ayrault versprach etwas pompös die "Restaurierung der parlamentarischen Demokratie". Ohne Bayrou warnen sich die Sozialisten selbst - hoffentlich.
N.B. Die Sitzverteilung kann sich noch ändern.