Zusammen mit indischen Freunden besuchten wir vor einem Monat den Norden Keralas und die Hügelregion im angrenzenden Karnataka. Einmal mehr stellten wir fest, dass südindische Frauen mit einer Selbstverständlichkeit selbstbewusst und präsent sind, wie man sie im Norden Indiens selten wahrnimmt. Schaut man ein bisschen näher hin, entdeckt man jedoch bald die alten Muster weiblicher Rückstellung und Gängelung.
Spiel mit dem Paradox
Der Anlass war eine Hochzeitsfeier. Das befreundete Paar war rechtlich bereits verheiratet, und der Anlass war daher mehr eine Feier mit einer Tanzveranstaltung im Zentrum. Der dafür ausgewählte Tempel lag in einem kleinen Dorf namens Belavadi in der Region von Chikmagalur im wunderschönen Hügelgebiet der Western Ghats.
In der Nähe befinden sich die berühmten Tempelanlagen von Belur und Halebid aus dem 12. Jahrhundert. Wie diese ist auch der Tempel von Belavadi Shiva gewidmet, doch die ästhetischen Prunkstücke sind die Reliefs und Skulpturen mit mythischen Tieren, dichtem Astwerk und üppigen Frauengestalten. Doch sie schmückten nur die Aussenwände – drinnen hatten sie nichts zu suchen.
Auch die Tanzvorführung spielte mit diesem Paradox. Es ging um die Geschichte von Narasimha, einem Avatar von Vishnu. Aber vorgetragen wurde sie, in der uralten Form des Kudiyattam-Tanzes, von einer Frau. In ihr verkörpert sich der männliche Gott, ihr Tanz ist seine Geschichte.
Lebender Ritus
Dasselbe Muster, wenn auch in umgekehrter Form, erlebten wir einige Tage später in Nord-Kerala, als wir zwei Tage lang den Theyyam-Vorführungen beiwohnen konnten. Im Gegensatz zu Kudiyattam gehört Theyyam der „Kleinen Tradition“ des Hinduismus an. In ihr ist nicht vom Dreigestirn Brahma, Vishnu und Shiva die Rede. Es sind vielmehr lokale Göttinnen, die in den Tänzern – meist Angehörigen tiefer Kasten – lebendig werden.
Im Unterschied zum Kudiyattam-Tanz, der heute überwiegend als kulturelle Vorführung präsentiert wird, ist Theyyam immer noch ein intensiv gelebtes Ritual. Es wird zwischen November und April in Dorftempeln, Hausschreinen, an einem Flussufer oder Dorfplatz durchgeführt. Meist beginnt die Zeremonie bei Sonnenuntergang mit dem Verfertigen des Kleids, des Kopfschmucks, der Gesichtsmaske, begleitet von Gebeten und langsamen Trommelschlägen. Sie endet oft erst am nächsten Tag.
Der magische Moment
Anders als im Kudiyattam ist die Gottheit nicht männlich. Sie ist eine von über 400 Göttinnen, die vom ausgewählten Ort und Tänzer Platz ergreifen. Und es ist immer ein Mann im Reifenrock und mit riesigem Kopfschmuck, von dem sie Besitz ergreift.
Der Tänzer ist von anderen Männern umringt, alle im weissen Mundu-Hüftkleid und mit nackten Oberkörpern. Sie unterhalten das grosse Feuer im Vorhof der „Allerheiligsten“, sie schlagen die Trommeln, intonieren Bittrufe. Der Tanz beginnt, wenn einer von ihnen dem Tänzer einen kleinen Spiegel vors Gesicht hält – es ist der Augenblick, in dem der Funke überspringt und die Ekstase einsetzt.
In wilden Sprüngen umkreist er nun die lodernden Flammen, läuft durch sie hindurch, watet in der Glut, er köpft ein Huhn und bespritzt den Boden mit dessen Blut, er schreit, man weiss nicht, vor Schmerz oder Inbrunst – oder beidem. Immer wieder wird er mit Wasser benässt, damit Kleid und Kopfschmuck nicht Feuer fangen.
Feminine Kraft
Schliesslich wird er/sie, immer noch schreiend und gestikulierend, zu den Zuschauern geführt, die den Platz umringen. Wer will, kann sich der „Gottheit“ nähern und sein Anliegen vorbringen – einen Streit um Boden, eine kinderlose Ehe, Krankheit, Wetterunbill, religiöse Zweifel. In dem von uns beobachteten Ritual beantwortete die Gottheit die Fragen auffallend ruhig und auch sachkundig. Später erfuhren wir, dass der Tänzer ein Dorfbewohner war – ein Rikschafahrer.
Die Frauen in unserer Freundesgruppe – und nicht nur sie – waren begeistert von dieser Demonstration femininer Kraft über patriarchalische Dominanz. Doch später kamen Zweifel auf. Das ganze Ritual, so bemerkte eine Freundin aus Bombay, wird ja von Männern besorgt! In der Tat: Die einzigen Frauen in dieser wilden Nacht waren die Mitglieder des Dorfs, die zuschauten.
Nicht ein einziges Mal gab es auch nur eine Geste aktiver Teilnahme von ihrer Seite, sei es beim Anzünden der Öllämpchen oder Verfertigen von Ornamenten, beim Einkleiden oder Schminken. War es die Göttin, die die Männer tanzen liess? Oder war es einmal mehr das Patriarchat, das mit Hilfe eines religiösen Rituals seine Deutungshoheit – und damit die traditionelle Geschlechter-Hierarchie – behaupten konnte?
Sexuelle Macht der Frauen
Am Tag nach dem letzten Theyyam besuchten wir im Städtchen Taliparamba einen Shiva-Tempel. Es war die Zeit des Abendgebets, und die Priester – wiederum mit nacktem Oberkörper und weissem Mundu – gossen Öl in die Lichtschalen, reinigten das Allerheiligste, versorgten den finsteren Gott mit seinem Abendmahl, Reisflocken und Ghee.
Vor dem Eingang kauerten Frauen, die andächtig ins Allerheiligste hineinschauten. Sie hatten kein Recht, es zu betreten, derweil wir Männer an ihnen vorbei Zugang erhielten. Auch mich liess man, trotz einiger scheeler Blicke, als Hindu passieren, nachdem mein Hüfttuch inspiziert und für korrekt befunden worden war (es durfte keinen einzigen Nadelstich aufweisen).
Die Begründung für das abendliche Besuchsverbot der Frauen lautete, dass der Anblick einer Frau den mächtigen Gott wieder aufreizen könnte, nachdem ihn das Arathi-Abendgebet beruhigt hatte. Auch hier könnte ein Kulturpsychologe argumentieren, dass dies ein verstecktes Zugeständnis an die sexuelle Macht der Frau darstellt. Aber es ist eine Begründung, die so alt ist wie das Patriarchat, was ihr nichts nimmt von ihrer Illegitimität.
Hohe Suizidrate von Frauen
Ich bin bei weitem nicht der Erste, der diese doppelbödige Geschlechterbeziehung gerade in Kerala erkannt hat. Sie ist überall sichtbar, nicht zuletzt in der feministischen Bewegung, die dem Patriarchat auch hier den Kampf angesagt hat. Im Unterschied zum Westen hat sie die systematische Diskriminierung jedoch bestenfalls angekratzt. Ein erschreckendes Symptom dafür ist die hohe Selbstmordquote von Frauen aus Kerala zwischen 15 und 45 Jahren. Sie ist die höchste in ganz Indien – (paradoxerweise weist dieses Bevölkerungssegment auch die höchste weibliche Bildungsquote im Land aus).
„Systematische Diskriminierung“ bedeutet, dass die Mentalität männlichen „Besserwissens“ tief verankert ist; so tief, dass diese selbst bei Richtern die klaren Vorgaben einer egalitären Gesetzgebung übertrumpfen kann. Ein gutes Beispiel ist der kürzliche Fall einer jungen Frau in Mittel-Kerala:
Honigfalle?
Die 24-jährige Akhila Ashokan studiert in Coimbatore Medizin. Dort lernte sie einen Kommilitonen namens Shafin Jahan kennen. Die beiden beschlossen zu heiraten, und zwar gemäss islamischem Ritus. Akhila bekehrte sich zum Islam und heisst nunmehr Hadiya.
Dies passte ihrem Hindu-Vater nicht. Er appellierte an das Oberlandesgericht von Kerala: Seine Tochter sei ein Opfer des Love Jihad geworden, einem angeblichen Komplott der Islamisten, welches das demografische Profil der Hindu-Mehrheit verändern solle. Junge Hindu-Mädchen würden in eine Honigfalle gelockt, zur Bekehrung gezwungen und geheiratet, um kleine Islamisten zu gebären statt frommen Hindus.
Das Gericht übernahm diese Argumentation, annullierte die Eheschliessung und unterstellte Hadiya wieder dem „Schutz“ ihrer Eltern. Sie sei schwach und verwundbar, und eine Heirat sei eine so wichtige Entscheidung, dass die Eltern ein gewichtiges Wort mitzureden hätten. Hadiya wurde ihren Eltern überstellt und zuhause eingesperrt. Der Staat stellte dem Vater sogar einen wachhabenden Polizeibeamten zur Verfügung.
Alte Reflexe
Daraufhin appellierte Hadiyas Ehemann an das Oberste Gericht in Delhi. Er nannte die Wegsperrung seiner Frau eine Beleidigung aller indischen Frauen. Doch auch die Obersten Richter folgten zunächst dem Urteil der unteren Instanz.
Erst massive Proteste aus der Zivilgesellschaft bewegten den Gerichtspräsidenten schliesslich, einer Review Petition stattzugeben, so offensichtlich war die massive Verletzung grundlegender Freiheitsrechte. Er hob den Hausarrest auf und erklärte die Ehe für gültig. Aber auch er zitierte Hadiya nach Delhi, um sich persönlich zu vergewissern, dass sie eine normale junge Frau ist und nicht ein schwaches, urteilsunfähiges Geschöpf.
Sobald eine indische Frau soziale Normen verletzt, erklärte Hadiyas Anwältin Vrinda Grover, reagiert die Gesellschaft reflexmässig mit Freiheitsentzug. Und sie tut es über alle politischen Färbungen hinweg. Hadiyas Vater ist ein aktives Mitglied der regierenden KP in Kerala. Er erhielt Unterstützung sowohl von den Kommunisten wie von der BJP. Wenn es um Muslime und Frauen geht, schliessen sich die Ränge.