„Do women have to be naked to get into the Met Museum? Less than 5% of the artists in the Modern Art sections are women, but 85% of the nudes are female“
Text auf einem Plakat der 1965 gegründeten amerikanischen Künstlerinnen-Gruppe Guerrilla Girls mit einem Akt von Ingres.
Gelten die neuen Ausstellungen im Kunst Museum Winterthur der Debatte um „#MeToo“? Oder der Kontroverse um „Skandal-Bilder“ wie Balthus’ „Thérèse Dreaming“ im Metropolitan Museum New York oder „Hylas und die Nymphen“ des Präraffaeliten John William Waterhouse in der Manchester Art Gallery?
Fehlanzeige: Konrad Bitterli, der neue Direktor des Winterthurer Kunstmuseums und der erste Chef beider Häuser (und auch des dritten, der gegenwärtig noch geschlossenen Villa Flora), plante all das lange bevor die Debatte losbrach und nicht nur Hollywood, sondern auch viele Museen und die bildende Kunst und schliesslich auch die Theater überschwemmte. Doch geplant ist’s trotzdem und sogar zielbewusst, wenn auch nicht im Hinblick auf flüchtige Alltagsaktualität.
Generationenwechsel
In Winterthur findet, nach der langen Direktionszeit von Dieter Schwarz (1990 bis 2017), ein Generationenwechsel statt. Schwarz’ Ausstellungsprogramme waren von hoher Qualität und basierten nicht nur, aber doch ausgeprägt auf der Zeitgenossenschaft des Direktors mit Arte Povera, mit amerikanischer Kunst, mit Gerhard Richter. Es waren mit wenigen Ausnahmen (z. B. Marisa Merz oder Pia Fries) sehr maskuline Programme. Die Sammlungspräsentation blieb dabei weitgehend unverändert – verständlich, denn wer greift gerne in die Aufreihung beliebter und tatsächlich singulärer Meisterwerke ein, wie sie die Bestände des Kunstmuseums Winterthur prägen?
Und in der Sammlung im Museum Reinhart am Stadtgarten herrschte, noch unter eigener Direktion, bei aller Wertschätzung der fast durchwegs geschmackssicheren Sammeltätigkeit Oskar Reinharts, mitunter die Ruhe eines Mausoleums – mit Ausnahme der auch aus dem Ausland besuchten Räume mit den wunderbaren Werken Caspar David Friedrichs und Philipp Otto Runges.
Wer neu ein Haus übernimmt, zeigt gern Profil. So bedeutet der Generationenwechsel in Winterthur neue Akzente in den Ausstellungsprogrammen, einen anderen Umgang mit der Sammlung – und, dank der neuen Strukturen, ein Zusammengehen des Kunstmuseums und des Museums Reinhart, wie es eigentlich schon längst fällig und sinnvoll gewesen wäre.
Konrad Bitterli vollzieht diesen Wechsel pragmatisch, frei von Ideologie und ohne Schielen nach Alltagsdebatten. Die Sache selber ist einfach: Der neue Direktor rückt Frauen als Künstlerinnen und als Thema der Kunst ins Zentrum. Er tut das so, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. Frauen im Museum – das hiess in den 1980ern für die amerikanischen Guerrilla Girls noch: Frauen kommen ins Museum, wenn sie nackt sind; als Künstlerinnen haben sie kaum eine Chance. Mit dieser Härte trifft die Kritik heute nicht mehr ins Schwarze. Ein plakativer gemeinsamer Nenner drängt sich fürs Winterthurer Programm also nicht auf, wenn auch im saloppen Spruch der US-Girls immer noch mehr als ein Quäntchen Wahrheit steckt.
Women – Frauenbilder
Die Ausstellung „Women – Frauenbilder durch die Jahrhunderte“ im Museum Reinhart am Stadtgarten, basierend auf eigenen Sammlungsbeständen, zeigt das deutlich: Frauenbilder in der Kunstgeschichte sind Bilder, die sich Männer von Frauen machen: Madonna, elegante Dame, lesende, musizierende, also musische Frau, die häusliche und die mütterliche Frau, die Halbwelt-Frau aus dem verbotenen und umso lustvolleren Blicken ausgesetzten Milieu, der schöne Frauenkörper schliesslich als Thema der Aktmalerei. Das wird vom späten Mittelalter über die niederländische Genremalerei bis in die Welt des 19. Jahrhunderts und bis zu Vallotton vor Augen geführt. Konrad Bitterli und die Mit-Kuratorin Andrea Lutz holten Eindrucksvolles aus den Depots. Peter de Hooch setzt einen Glanzpunkt. Ein Frauenporträt Rudolf Kollers zeigt, dass das Image des Kuh-Malers dem Künstler doch nicht gerecht wird. Hans Sandreuters „Malerei und Inspiration“ ist ein Glücksfall im Werk des Böcklin-Nachfolgers. Akzente setzen Maillol, Toulouse-Lautrec, Bonnard, Vallotton.
Doch die Sammlung will neu gesehen sein. Der Einbezug von Gegenwartskunst eröffnet einen neuen Blick auf Vergangenes. Akzente mit völlig anderen Frauenbildern setzen Pipilotti Rist, Candice Breitz, Nan Goldin, Sylvie Fleury und Maria Eichhorn.
Die Werke dieser profilierten Künstlerinnen gehören nicht der Winterthurer Sammlung. Auch das ist ein Statement Bitterlis und vielleicht ein Blick in die Zukunft: Die neue Generation will Lücken schliessen. Video gibt’s bis heute in den Winterthurer Sammlungen nicht.
Katinka Bock
Der 1976 geborenen deutschen Plastikerin Katinka Bock, einer über Deutschland hinaus international bekannten Künstlerin ihrer Generation, war bisher in der Schweiz in Gruppenausstellungen in St. Gallen und in Luzern zu begegnen. Im Erweiterungsbau des Kunst Museums Winterthur beim Stadthaus greift sie weit in die Säle aus und realisiert ein eindrückliches Raumkonzept. Bereits in den historischen Sammlungsräumen, wo sie auch selbstbewusst eine eigene Skulptur auf ein Werk von Hans Arp treffen lässt, legt sie eine breite Spur: „Miles and Moments“ besteht aus Tonelementen, die die Künstlerin auf einer mehrspurigen Strasse auslegte, von Autos überfahren und schliesslich brennen liess. Die Autos hinterliessen die Spuren der Meilen als Abdruck des Moments, der im gebrannten Ton konserviert wurde.
Im Erweiterungsbau selber schafft Katinka Bock mit die Wände durchstossenden Metallelementen wie mit Energielinien Verbindungen über acht Räume, markiert mit einfachen skulpturalen Elementen die Eckpunkte der Installation und breitet in diesem Netz ihr plastisches Schaffen aus, das geprägt wird durch Werkstoffe wie Ton, Bronze und andere Metalle, Stein, Textilien. Spürbar wird eine Verwurzelung in der Frühzeit der Arte povera, ebenso aber ein disparater, von Freiheit und Spontaneität zeugender Umgang mit den Räumen, der sie zum Schwingen bringt, sodass sich ihre Skulpturen fern von System-Zwängen frei entfalten können.
Bestimmend ist dabei ihre Verwendung des Werkstoffes Ton, der sich weich modellieren und falten und schliesslich brennen lässt, und dem die Künstlerin eine ausgeprägte sinnliche Qualität verleiht. Ein Beispiel ist „Population – erschöpft“ (2017), eine Kleinskulptur anthropomorphen Charakters und von fast melancholisch stimmender Inhaltlichkeit. Spontan in die Installationen einbezogene Schwarz-Weiss-Fotos von Körperfragmenten unterstreichen das Beziehungsnetz, in das Katinka Bock diese und andere Skulpturen einspannt. Zu dieser sensiblen Körperlichkeit der Skulpturen passt auch, dass sich Katinka Bock mehrfach des Elementes der Wärme bedient, dass sie Wasser verdampfen lässt und ein weiches Tonelement über die harte Form eines Heizkörpers legt.
Räume besetzen
Der Plastikerin der jüngeren Generation gilt die Hauptausstellung im Erweiterungsbau des Kunst Museums beim Stadthaus. In den übrigen Räumen schafft die Sammlungspräsentation „Räume besetzen – Werke von Bildhauerinnen“ ein entsprechendes Umfeld. Den Auftakt bildet eine Skulptur von Germaine Richier. Beinahe ein ganzer Raum steht Ruth Vollmer (1903–1982) zur Verfügung, einer deutschen Künstlerin, die in die USA emigrierte und sich in ihren Arbeiten mit geometrischen Körpern, mit der Kugel vor allem, beschäftigte. Weitere Werke stammen von Meret Oppenheim, Heidi Bucher, Marisa Merz.
Glanzpunkte mit bedeutenden Werken setzen Isa Genzken – vor allem mit „Meister Gerhard“ (1983), einer Hommage an Genzkens damaligen Ehemann Gerhard Richter, aber auch mit fragmentarischen Bau-Skulpturen aus Gips und Beton – sowie Rita McBride.
Die Präsentation zeigt bei aller Qualität der Werke aber auch: Die Winterthurer Sammlung ist mit Werken von Bildhauerinnen nicht eben grossartig bestückt. Auch da bestünde wohl Nachholbedarf.
In Winterthur kommen 2018 weiterhin Frauen als Künstlerinnen und nicht als Modell ins Museum – entgegen dem Protestplakat der Guerrilla Girls: Im September widmet das Museum mit Karin Sander (*1957) einer weiteren bedeutenden deutschen Künstlerin eine grosse Übersichtsausstellung. Zuvor aber lassen die Kuratoren Konrad Bitterli und David Schmidhauser zwei der wichtigsten Schweizer Künstler überhaupt erstmals einander in einer Ausstellung begegnen: Ferdinand Hodler und Alberto Giacometti (21. April bis 19. August).
Kunst Museum Winterthur
Beim Stadthaus:
Katinka Bock. Bis 2. April.
Beim Stadthaus:
Räume besetzen. Werke von Bildhauerinnen. Bis 12. August.
Reinhart am Stadtgarten:
Women. Frauenbilder durch die Jahrhunderte. Bis 17. Juni.