Normas Stadtviertel von San Salvador wird von der M-18-Bande kontrolliert, einer jener Tausende Mitglieder zählenden kriminellen Organisationen, deren Einfluss- und Herrschaftsbereich sich oft von Los Angeles über Mexiko bis nach Mittelamerika erstreckt. Norma wurde von vier Bandenmitgliedern entführt. Sie fesselten sie, stopften ihr einen Knebel in den Mund und brachten sie zum Friedhof. Dort vergewaltigten sie sie, einer nach dem andern. Und als sie fertig waren, warfen sie sie in eine Mülltonne. Ihr Mann, ein Polizist, erstattete Anzeige gegen die Täter, was diese umgehend mit massiven Mordrohungen gegen Norma und ihre Familie beantworteten. Daraufhin floh Norma zu ihrem Onkel und ihrer Tante und änderte ihre Telefonnummer. Doch die Drohungen hörten nicht auf. Ohne jede realistische Chance auf Schutz heuerte Normas Mann einen jener Menschenschmuggler an, Coyoten genannt, der sie sicher nach Norden in die USA bringen sollte.
Höllentrip ins gelobte Land
Die drei Länder, die als das „Nördliche Dreieck“ von Mittelamerika bezeichnet werden, gelten als eine der gefährlichsten Regionen auf der Welt, besonders für Frauen. El Salvador, Guatemala und Honduras rangieren, gemessen an der Zahl ermordeter Frauen, weltweit an erster, respektive dritter und siebter Stelle. Banden mit Namen wie Hollywood Locos Salvatrucha oder Parvis Locos Salvatrucha stellen inzwischen in El Salvador Bürgermeister oder Stadtverordnete, infiltrierten die bürgerlichen Parteien und operieren offen mit den grossen mexikanischen Verbrechenssyndikaten wie dem Golf-Kartell, der Familia Michoacana, Los Zetas oder dem heimischen Texis-Kartell, die nahezu jedes illegale Geschäft betreiben, von Drogen- über Frauenhandel bis zu Schutzgelderpressung und Auftragsmord und Mexiko zu einem der gewalttätigsten Länder der Welt machen. In Mittelamerika und Mexiko sterben mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als in Afghanistan, Irak und Syrien.
Dies macht den Weg in die erhoffte Sicherheit der Vereinigten Staaten zu einem Höllentrip. Zunächst verlangt der Coyote seine Bezahlung sowie Beiträge für die Polizisten, Grenzbeamte, und Vertreter der Migrationsbehörden, die ebenfalls an den Flüchtlingen verdienen wollen. Kein „seriöser“ Coyote bringt einen Migranten für weniger als 10‘000 Dollar in die Vereinigten Staaten. Dennoch sind die Migranten jedem kleinen Polizisten, der sie entdeckt, jedem Fahrer, jedem Gastwirt ausgeliefert. Sie nutzen die Verletzlichkeit dieser Frauen, verlangen eine kleine „contribución“. Verfügt die Frau nicht über ausreichend Geld, muss die Schuld mit Hausarbeit oder sexuellen Dienstleistungen abgeleistet werden. Lange Strecken müssen die Frauen zu Fuss gehen, um Strassensperren der Polizei oder Armee zu umgehen. Manchmal werden sie von einem Lastwagenfahrer mitgenommen – oftmals ebenfalls nur gegen sexuelle Gefälligkeiten. Die heruntergekommenen Absteigen, in denen sie nächtigen, müssen meist Schutzgelder an die grossen Kartelle abführen, die ganze Bundesstaaten wie Michoacán, Sonora oder Tamaulipas kontrollieren und wie Raubritter Wegezoll verlangen.
Einst heuerten aus dem aktiven Dienst ausgeschiedene Soldaten der amerikanischen Special Forces bei den Drogenkartellen Mexikos als Bodyguards an, bis sie erkannten, dass sie als Selbstständige mehr Geld machen konnten und unter der Bezeichnung „Los Zetas“ eines der brutalsten Verbrechersyndikate geründeten. In einem Massaker ermordeten die Zetas vor etlichen Jahren 268 Menschen, Migranten aus Mexiko, Zentral- und Südamerika. Immer wieder wurden im Norden, dem zentralen Orperationsgebiet der Zetas, Tote mit eingeschlagenen Schädeln in Massengräbern entdeckt: in nur einem Monat zunächst 72 Leichen, dann acht, dann an einem Tag 145 in 36 Gräbern, schliesslich 196. Die Schlepper verstanden: Entweder sie zahlten den Zetas Wegezoll oder sie kamen nicht mehr durch. Mexiko zu durchqueren hat seinen Preis, und die Zetas legen ihn fest. Sie verlangen 500 Dollar für jeden Migranten.
In den Händen der Zetas
Doch auch die regelmässigen Zahlungen garantieren keine sichere Passage. Oft arbeiten die Coyoten mit den Syndikaten zusammen und verkaufen ihnen die Frauen, die sich ihnen anvertraut haben. In seinem Buch „A History of Violence – Living and Dying in Central America“ gibt der salvadorianische Journalist Óscar Martínez die Aussage einer Frau aus seiner Heimat wieder, Grecia, die auf ihrem Weg in die USA im Süden Mexikos von einem Schlepper für 500 Dollar an die Zetas verkauft wurde: Es war in Reynosa im Bundesstaat Tamaulipas, der Hochburg der Zetas, wo sie festgehalten wurde. Dort wurden „wir ständig missbraucht ... Nach drei Tagen kam ein Mann, den sie Omega nannten. Er hat mich acht oder neunmal vergewaltigt. Er hat mir gesagt, er hätte Spass daran, also sollte es mir gefälligst auch Spass machen. Und dann hat er mich wieder geschlagen. Die anderen haben es genauso gemacht. Aber die, die ihm gefielen, hat er als Erster vergewaltigt ... Das ging so drei Monate lang ... Dann haben sie mich an eine Bar namens La Quebradita verkauft. Dort tätowierten sie mir einen Schmetterling auf einem Zweig in Form eines Z auf die Wade. Das bedeutete, dass ich ihnen gehörte, dass ich eine Ware war. Ausser mir waren noch fünf Frauen da. Sie hatten das Zeichen an verschiedenen Stellen, auf dem Arm, Rücken oder auf der Brust, in verschiedenen Farben. Nachdem sie uns gezeichnet hatten, mussten wir uns prostituieren. Zuerst haben uns die anderen Bandenmitglieder missbraucht. Die Kunden haben für uns bezahlt, aber wir haben nichts bekommen.“ Die Kunden hätten sie gezwungen, Crack zu rauchen oder Kokain zu nehmen. Sie hätten nie ein Kondom benutzt. Schläge seien normal gewesen, vor allem, wenn sie bei Kunden nicht leidenschaftlich genug gewesen sei. Einer habe ihr einmal das Nasenbein gebrochen, so hart habe er zugeschlagen. Weil ihre Familie Lösegeld bezahlt habe, hätten sie „Sonia gehen lassen. Sie ging zur Migrationsbehörde und erstattete Anzeige. Die von der Migrationsbehörde haben sie direkt an die Zetas übergeben, und die haben sie mit einem Baseballschläger verprügelt, bevor sie sie bei lebendigem Leib verbrannt haben.“ Nach drei Monaten Leidenszeit und nachdem ihre Tante 3500 Dollar Lösegeld bezahlt hatte, wurde Grecia freigelassen. Sie gaben ihr 300 Pesos und brachten sie zum Busbahnhof von Reynosa und rieten ihr, aus der Gegend zu verschwinden.
Drohende Flüchtlingskrise
Viele Frauen aus Mittelamerika auf der Flucht nach Norden, so stellte der UN-Hochkommissar für Flüchtlingsfragen fest, fliehen vor der weit verbreiteten häuslichen Gewalt – und erleiden dasselbe Schicksal auf ihrem Weg in die vermeintliche Freiheit. Untersuchungen ergaben, dass achtzig Prozent aller Frauen und Mädchen, die via Mexiko in die USA zu gelangen suchen, auf ihrer Reise mindestens einmal vergewaltigt werden. Das sei ein erheblicher Anstieg von vormals geschätzten sechzig Prozent, resümierte Amnesty International. Die Fälle werden kaum einmal gemeldet. „Die Behörden und Personen, die solchen Klagen nachgehen sollten, sind in den meisten Fällen auch dafür zuständig, illegale Migranten einzusammeln und in ihre Heimatländer zu deportieren“, erklärt ein UN-Mitarbeiter.
„Die Gewalt gegen Frauen hat in Mittelamerika ein solches Ausmass angenommen, dass die Opfer von Vergewaltigung, Schlägen, Entführung und Todesdrohungen um ihr Leben über Grenzen und in die Vereinigten Staaten fliehen“, schrieb die New York Times und sprach von einer „drohenden Flüchtlingskrise. Zehntausende Frauen, oft mit ihren Kindern, fliehen vor der um sich greifenden tödlichen Gewalt von bewaffneten Banden, Drogenhändlern und ihren eigenen Ehemännern und Freunden – alltägliches Leben in Angst und Schrecken.“
In einem erschütternden Bericht „Women on the Run: First-Hand Accounts of Refugees Fleeing El Salvador, Guatemala, Honduras and Mexico“ listet der UNHCR das Leid von unzähligen Frauen in Honduras, Guatemala, El Salvador und Teilen von Mexiko auf und fordert „sofortiges und koordiniertes Handeln der Staaten der Region ... Es ist an der Zeit, die Sache beim Namen zu nennen. Wir erleben eine Flüchtlingskrise , die jeden Tag schlimmer wird. Seit 2008 habe sich die Zahl der Asylsuchenden, die aus dem Nördlichen Dreieck in den USA ankommen, verfünffacht.“
Eindämmung der Flüchtlingsflut
Doch die Antwort ist beinahe ebenso erschütternd. Seit 2013 setzt die mexikanische Regierung mit der aktiven Hilfe der USA entlang seiner Südgrenze einen Sicherheitsplan um. Die amerikanische Hilfe schliesst die Einrichtung von zwölf US-Marinestützpunkten entlang der mexikanischen Grenzflüsse im Norden und dreier Sicherheitscordons entlang der Grenze Mexikos mit Guatemala, der sich bis 160 Kilometer nördlich der Grenze erstreckt. Zusätzlich bewilligte der US-Kongress Hunderte Millionen Dollar Finanzhilfe, um die Südgrenze Mexikos zu sichern. „Die Migranten kommen alle aus Mittelamerika“, erklärte Michael McCaul, ein Republikaner aus Texas und Vorsitzender des Homeland Security Committee im Repräsentantenhaus. „Wenn wir sie an der Südgrenze Mexikos anhalten können, sind wir 99 Prozent aller Probleme hier los.“ Aus Sicht der USA sind die Ergebnisse der Zusammenarbeit mit den mexikanischen Behörden beeindruckend: 2015 fiel die Zahl der Mittelamerikaner, die von der Border Patrol festgenommen wurden, um die Hälfte – von 239‘000 auf 110‘000.
Weniger erfolgreich sieht das Ergebnis in Mexiko aus. Dort ist ein Anwachsen grober Menschenrechtsverletzungen zu beobachten. Unter den Sicherheitsbehörden an der Südgrenze des Landes ist ein wahres Jagdfieber ausgebrochen. Mexikanische Beamte hindern Migranten nun routinemässig an der Benutzung von Zügen, erhöhten die Geschwindigkeit der Züge und bauten Mauern entlang der Bahnstrecken. Gleichzeitig wurde ein weit grosszügigerer Gebrauch von Schusswaffen beobachtet. Mexikanische Polizisten, schon immer sehr nationalistisch, identifizieren Migranten heute durch diskriminatorische Methoden. Häufig gelten rassische Unterschiede, etwa zwischen indianischem Aussehen und einem einheimischen Mestizen, als Indiz für illegale Anwesenheit oder Nervosität oder sogar der Geruch einer Person. Sogar Mexikaner wurden aufgrund solcher Indizien schon verhaftet – obwohl die mexikanische Verfassung und internationale Abkommen, die Mexiko unterzeichnet hat, rassische Einordnung verbieten.
Und Norma! Sie sitzt derzeit in den Vereinigten Staaten in einer Strafanstalt, wo sie das Ergebnis ihres Asylantrags abwartet. „Die Banden vergeben nicht. Wenn sie mir nichts antun können, so können sie immer noch meinen Kindern etwas antun“, sagte sie der New York Times. „Manchmal wache ich auf und denke, es war nur ein Alptraum, aber dann fühle ich den Schmerz und weiss, alles ist wahr.“