Der folgende Text stammt von Dore Heim, einer Urenkelin der ersten Schweizer Ärztin. Der Artikel wurde erstmals 1995 in «Chratz&quer» im Limmat Verlag veröffentlicht.
Eine echte Zürcherin war sie nicht: Marie Heim-Vögtlin (1845–1916), die erste Schweizer Ärztin. Geboren und aufgewachsen in Bözen im Aargau – heute würde man sie wohl als eine Zuzügerin bezeichnen – wurde Hottingen und der Zürichberg zu ihrem Lebensmittelpunkt.
Marie Heim-Vögtlin schreibt 1911 an ihren Sohn Arnold: «Wenn ich wieder von vorne anfangen könnte – ich wollte, ich könnte es –, so würde ich wahrscheinlich nicht mehr Arzt werden, weil jetzt nicht mehr die Notwendigkeit besteht wie damals – ich würde gründlich geschulte Krankenpflegerin, und dann versuchen, eine wahre Gattin und Mutter zu werden, Schritt haltend so viel wie möglich mit dem Beruf des Mannes und mich vertiefen in die seelische und intellektuelle Entwicklung der Kinder – vieler Kinder, wenn die Gesundheit reicht. Wäre das nicht der höchste weibliche Beruf?» (ETH-Bibliothek Archive und Nachlässe, Nachlass Marie Heim-Vögtlin).
Von den Frauen wird ein Höchstmass an Leistung und Arbeitseinsatz gefordert. Sie müssen nicht nur besser als ihre männlichen Kollegen sein, sondern die besten in ihrem Fach überhaupt. Der Effort muss nicht nur im Studium, sondern auch im Berufsleben geleistet werden. «Fräulein Vögtli» nennen die beiden Kinder Helene und Arnold ihre Mutter in guten Momenten – ein Vogt, Verwalterin der Disziplin, ist sie innerhalb der Familie. Der riesige Arbeitsaufwand, den die Praxis der Frauenärztin mit sich bringt, kann nur mit einer minutiösen Tagesplanung bewältigt werden.
Dieselbe Disziplin verlangt die Mutter auch von ihren Kindern: Arnolds Schulweg wird abgeschritten und geprüft, wieviel Zeit der Bub dafür braucht. Trödeln ist nicht erlaubt. Zu Hause wird gestickt, geklebt, genäht, gestrickt, musiziert und unter Anleitung des Vaters Albert werden geologische Zeichnungen gefertigt. Auch im grossen Garten des «Hüsli» am Zürichberg wird gearbeitet. Verboten ist auch «Eitelkeit», in den Augen von Marie Heim-Vögtlin fast so schlimm wie Alkoholgenuss.
Protestantische Arbeitsethik
Die Pfarrerstochter Marie ist Atheistin, doch die protestantische Arbeitsethik ist ihre Lebensmaxime. In der Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, wächst sie mit der älteren Schwester Anna im Pfarrhaus von Bözen im Kanton Aarau auf. Die Mutter, die gerne Lehrerin geworden wäre, erzieht ihre beiden Töchter äusserst streng. Marie wird mit neun Jahren zum Unterricht in ein anderes Pfarrhaus gegeben. 1862 geht sie mit 17 Jahren als Haushaltshilfe nach Zürich und kehrt erst nach dem Tod der Mutter nach Hause zurück.
Mittlerweile ist die Familie Vögtlin nach Brugg umgezogen, wo Marie nun zusammen mit ihrer Schwester Anna den Pfarrhaushalt führt. In dieser Zeit lernt Marie ihren Cousin Fritz Erismann kennen. Der junge Arzt ist Sozialist, seine Menschheitsideale und sein Beruf begeistern Marie. Die beiden verloben sich. Kurz danach erkrankt Marie an Typhus, Fritz geht zurück nach Zürich, wo er Anschluss an die russischen Studentinnen und Studenten findet. Als ihn Marie 1867 in Zürich besucht, lösen sie ihre Verlobung. Ihr «Bruder», wie sie ihn fortan nennt, bleibt mit ihr in Briefkontakt. Wenige Monate nach dem Bruch mit Marie verlobt Erismann sich mit der russischen Ärztin Nadeschda Suslowa, die er 1868 heiratet.
Marie braucht einige Jahre, um über diese grosse Liebe hinwegzukommen. In dieser Zeit, sie ist 22 Jahre alt, lernt sie heimlich Latein, Mathematik und Naturwissenschaften und konfrontiert ihren Vater mit dem Wunsch, Medizin zu studieren. Er willigt überraschenderweise ein und nimmt damit auch beträchtliche finanzielle Lasten auf sich. 2800 Franken im Jahr verdient Pfarrer Vögtlin «… und die Hochschule verlangt Studiengebühren, die sich mit den Kosten heutiger amerikanischer Eliteuniversitäten vergleichen lassen.» (Verena E. Müller, Ein Leben zwischen Tradition und Aufbruch, S.176)
Pöbeleien im Vorlesungssaal
1869 beginnt Marie mit dem Medizinstudium an der Universität Zürich. Die Studenten hier begegnen ihr freundlich. Ganz im Gegenteil zu denen an der Universität Leipzig, wohin sie 1873 für ein Sommersemester geht. Die Studenten dort reagieren ausfällig gegen die Frau im Vorlesungssaal. Marie muss deshalb den Vorlesungen aus einem Nebenzimmer zuhören, bei halboffener Tür.
Sie wird Assistentin an der «Königlichen Entbindungsanstalt» in Dresden, wo sie ihre Dissertation «Über den Befund der Genitalien im Wochenbett» schreibt.
1874 schliesst sie ihr Studium in Zürich mit der Promotion ab und eröffnet ihre Praxis an der Hottingerstrasse 25. Und stösst im männerdominierten Zürich damit durchaus auch auf Widerstand. «Weshalb sollen Frauen einen Männerberuf ausüben, da ihre körperlichen Kräfte doch viel geringer sind …», fragt polemisch die NZZ (NZZ, 20.6.1874).
Frau Tokter
Die erste Praxis einer Frauenärztin jedoch ist bald überfüllt. Einige Frauen bringen gleich ihr Mittagessen mit und stellen sich schon frühmorgens an. Reiche Frauen bezahlen arme Frauen dafür, dass sie ihnen ihren Platz besetzt halten.
1875 heiratet Marie Vögtlin Albert Heim. Der Geologe ist ein leidenschaftlicher Bergsteiger und Naturkenner. Er hat keinerlei Vorbehalte gegen den Beruf seiner Frau, sondern versteht ihre Ehe von Anfang an als stützenden Hintergrund für die Pionierarbeit, die sie beide leisten.
Marie Heim-Vögtlin wird Tag und Nacht zu Notfällen quer durch die ganze Stadt gerufen. Einmal wird sie im Winter von einem Mann zu einer Geburt geholt. Es schneit heftig, und der Mann zieht an einem Strick einen Waschzuber hinter sich her, um für die «Frau Tokter» zu pfaden.
Ihr Patientinnenkreis beschränkt sich nicht nur auf Zürich. Ein guter Freund von Albert Heim ist Josef Maria Tresch, der Bergführer im Maderanertal. Eines Tages wird in der Praxis an der Hottingerstrasse von einem Boten ein Päckchen mit einem Brief vom Bergführer «Josemaria» abgeliefert: «Hier schicke ich Ihnen sechs Eier und den Brunnen meiner Frau.»
Familienleben Heim-Vögtlin
1882 wird das erste Kind, Arnold, geboren. Die Tochter Helene folgt 1886. Ein drittes Kind, die Tochter Marie Rosa, stirbt wenige Wochen nach der Geburt an Hirnhautentzündung.
Albert Heim hat bereits vor der Geburt der Kinder ein riesiges Stück Land am Zürichberg gekauft und darauf ein Holzhaus gebaut, das Chalet «Hagrose». Im «Hüsli», wie sie es nennen, leben die Eltern mit Arnold, Helene und dem Pflegekind Hanneli jedes Jahr von März bis September. Von einem Bauern wird ein Wagen gemietet, drauf werden Bettsachen, Tisch und Geschirr geladen. Ein Pferd und eine Kuh ziehen das hochbeladene Fuhrwerk die Hofstrasse hinauf bis zum «Hüsli» an der heutigen Köllikerstrasse.
Ohne Heizung, ohne elektrisches Licht und ohne fliessendes Wasser steht das «Hüsli» auf dem damals wenig bebauten Zürichberg. Weinberge ziehen sich hinab und das Doldertal ist noch von verschiedensten Tieren bevölkert. Ein Kolkrabe, den Marie gesundgepflegt hat, bewacht sie wie ein Hund und schützt vor unliebsamem Besuch. Andere gesundgepflegte Vögel, ein Neufundländer und für einige Wochen sogar ein junger, kranker Löwe, das Leuli, gehören zur Familie.
Engagement und Abgrenzung
Bereits bei ihren ersten Geburten wird Marie Heim-Vögtlin von ihrer Freundin Anna Heer in der Praxis vertreten. 1899 können die beiden Ärztinnen ein ehrgeiziger Projekt verwirklichen: Die «Pflegerinnenschule». 1901 werden Schule und Spital eröffnet. Marie Heim-Vögtlin übernimmt die Leitung der Kinderabteilung, Anna Heer wird Chefärztin.
In diesen Jahren wird Marie Heim-Vögtlin auch eine der führenden Stimmen in der Abstinenzbewegung der Schweiz, engagiert sich bei der Gründung des «Licht-Luft und Sonnen-Bades», des heutigen «Vereins für Volksgesundheit» (VGZ) am Zürichberg.
Und sie setzt sich für das Frauenstimmrecht ein. Dennoch betont sie immer, dass sie keine Frauenrechtlerin sei, es ihr aber sehr wohl um die Emanzipation der Frauen gehe. Ihr Verständnis von Vorbild ist bei aller Kühnheit des Lebenswegs konservativ. Die puritanische Strenge, die sie vorlebt, und die Disziplin, die sie sich selbst und ihrer näheren Umgebung im Alltagsleben abfordert, lassen sie schon zu Lebzeiten zu einem Mythos werden.
1916 stirbt Marie Heim Vögtlin an Tuberkulose.
Der Schweizerische Nationalfonds vergibt jährlich den «Marie Heim-Vögtlin-Preis» zur Förderung qualifizierter Wissenschaftlerinnen.
2011 würdigte sie die Zürcher Frauenzunft, die «Gesellschaft zu Fraumünster» und 2016 die Schweizer Post mit einer Sonderbriefmarke. Die Ehrung der ersten Schweizer Ärztin durch die Stadt Zürich fiel bescheiden aus: Ein schmaler Weg unterhalb der Üetlibergbahn trägt ihren Namen.