Er selbst hätte wahrscheinlich nicht einmal einen Peso auf sich gewettet. „Ich habe nicht die geringste Chance, als Papst gewählt zu werden“, sagte Jorge Bergoglio unmittelbar vor seiner Abreise nach Rom dem argentinischen Kolumnisten Joaquín Morales Solá. „Diesmal spricht mein Alter gegen mich.“
Diesmal kein Favorit
Der Erzbischof von Buenos Aires gehörte tatsächlich nicht zu den Favoriten der Papstkür, obwohl er 2005 am zweitmeisten Stimmen erhalten haben soll. Mit seinem Verzicht damals ebnete er schliesslich den Weg für die Wahl von Joseph Ratzinger.
Diesmal wurden innerhalb und ausserhalb des Vatikans andere Namen gehandelt. Angesichts der vielen ungelösten Probleme, mit denen die katholische Kirche sich zurzeit konfrontiert sieht, müsse ein jüngerer, durchschlagskräftiger Pontifex her, war in den Wochen nach dem Rücktritt von Benedikt XVI. immer wieder zu hören. Doch die Kardinäle entschieden anders. Bergoglios Bescheidenheit, seine Demut und seine mit Pragmatismus gepaarte Intelligenz sowie die lateinamerikanische Herkunft wogen in ihren Augen offenbar schwerer als seine 76 Jahre.
Der Volksheld
Nach einem Augenblick der Ungläubigkeit – auch in seiner Heimat hatte kaum jemand mit ihm gerechnet – begannen am Mittwochabend in ganz Argentinien die Feiern für den neuen Papst, den ersten aus Lateinamerika und damit den ersten Nichteuropäer seit 1272 Jahren. Überall fuhren Autos hupend durch die Strassen, in vielen Städten begannen die Kirchenglocken zu läuten, vor der Kathedrale in Buenos Aires versammelten sich im Lauf des Abends immer mehr Gläubige und liessen ihren Papst hochleben. „Es lebe Franziskus“, schrieen die einen voller Begeisterung. „Die ganze Welt liebt Dich“, versicherten andere.
Die Fernsehstationen berichteten stundenlang über die Papstwahl, interviewten Bekannte von Bergoglio, einheimische Kirchenleute und Religionsexperten, aber auch Leute von der Strasse. Die Zeitungen gingen in ihren Donnerstagausgaben ebenfalls sehr ausführlich auf das historische Ereignis ein. Sie analysierten seine Bedeutung für Argentinien und Lateinamerika, schrieben detailliert über den Werdegang Bergoglios vom einfachen Priester zum Oberhirten der weltweit 1,2 Milliarden Katholiken, von denen 41 Prozent in Lateinamerika leben, und veröffentlichten Reaktionen von Politikern, Prominenten und Gläubigen.
Der Papst der Armen
In einem waren sich praktisch alle einig. Mit Bergoglio hat die katholische Kirche ein neues Oberhaupt, der sich stets für jene einsetzte, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. „Wir müssen alles tun, um den Skandal der Armut und der sozialen Ungerechtigkeit zu verringern“, redete er 2006 bei einem Bischofstreffen seinen Glaubensbrüdern ins Gewissen.“ Und 2010 doppelte er nach. „“Es darf kein einziges Kind geben, das nicht das Recht hat, geboren zu werden. Es darf kein einziges Kind geben, das nicht das Recht hat, gut ernährt zu werden und die Schule zu besuchen. Es darf keinen einzigen alten Menschen geben, der allein ist und abgeschoben wird.“
Bergoglio setzte sich nicht bloss in schönen Reden für die sozial Benachteiligten ein, er nahm seinen Seelsorger-Auftrag ernst und suchte immer wieder den direkten Kontakt mit ihnen. Er ging in die Armenviertel, wusch in einem Hospiz Aids-Kranken die Füsse, weihte Speiselokale für Mittellose ein und besuchte Häftlinge im Gefängnis.
Der Busfahrer
Der neue Papst stammt selbst aus einfachen Verhältnissen. Er ist eines von fünf Kindern italienischer Einwanderer. Der Sohn eines Eisbahners machte einen Abschluss als Chemiker, bevor er 1957 mit 21 ins Priesterseminar eintrat. 1969 wurde er zum Priester geweiht und unterrichtete nebenbei an der Theologischen Fakultät der Universität San Miguel. Vier Jahre später übernahm er als Provinzial die Leitung des Jesuitenordens in Argentinien. 1998 ernannte ihn Johannes Paul II. zum Erzbischof von Buenos Aires, von 2005 bis 2011 war er Vorsitzender der Argentinischen Bischofskonferenz.
Menschen aus seinem Umfeld bestätigen, dass Bergoglio selbst als Erzbischof sehr bescheiden, ja geradezu asketisch lebte. Er liess sich nicht in der offiziellen Bischofsresidenz nieder, sondern wohnte in einer kleinen Wohnung neben der Kathedrale. Er benutzte lieber öffentliche Verkehrsmittel als die Bischofs-Limousine, ging oft im Supermarkt einkaufen und bereitete sich selber das Essen zu.
Der „Oppositionelle“
Während der Grossteil seiner Landesleute ihn überschwänglich feierte, reagierte Staatschefin Cristina Fernández de Kirchner eher distanziert auf Bergoglios Wahl zum Papst. Sie gratulierte ihm zwar in einem kurzen Schreiben, ging aber wortlos darüber hinweg, dass erstmals ein Argentinier an der Spitze der katholischen Kirche steht.
Diese kühle Reaktion überrascht nicht. Sowohl Cristina Kirchner als auch ihr Vorgänger und Ehemann Néstor hatten ein angespanntes Verhältnis zum Erzbischof von Buenos Aires, der mehrmals – ohne Namen zu nennen – den auf Konfrontation angelegten Regierungsstil des Ehepaars kritisierte und auch des Öfteren deutliche Worte gegen die in Argentinien üppig gedeihende Korruption fand. Die Kirchners beschuldigten ihn mehr oder weniger offen, mit der Opposition zu sympathisieren, und beklagten, dass er ihre Bemühungen, die Armut zu reduzieren, zu wenig anerkenne.
Der Konservative
Heftige Reaktionen nicht nur bei der Präsidentin provozierte der Erzbischof, als er sich vehement gegen die Legalisierung der Ehe von gleichgeschlechtlichen Paaren wandte. Er sah darin ein„Teufelsmanöver“, das seiner Ansicht nach genauso verwerflich ist wie die Abtreibung und die Empfängnisverhütung. Eine solche Haltung, konterte Cristina Kirchner, erinnere an „mittelalterliche Zeiten und die Inquisition“.
Der Liberale
So unnachgiebig wie beim Thema der Homo-Ehe ist Bergoglio nicht in allen Fragen der Kirchendoktrin. Er trat dafür ein, dass auch uneheliche Kinder getauft werden, und kanzelte Priester, die den Kindern dieses Sakrament verweigern wollten, als „heuchlerische Anhänger eines Neo-Klerikalismus“ ab. Bei liberalen Katholiken kam er mit diesem Rüffel gut an, Konservative hingegen kritisierten ihn.
Der dunkle Fleck
Welche Rolle spielte Bergoglio während der argentinischen Militärdiktatur (1976 – 1983)? Diese Frage ist in den vergangenen Jahren mehrmals diskutiert, aber bis heute nicht endgültig beantwortet worden. Kritiker werfen ihm vor, sich nicht entschlossen genug gegen die damaligen Machthaber gestellt zu haben. Schlimmer noch: Er soll 1976 den Schergen der Generäle geholfen haben, zwei Jesuiten zu entführen. Bergoglio hat diese Vorwürfe stets zurückgewiesen, und es ist auch nie Anklage gegen ihn erhoben worden. 2010 erklärte er als Zeuge in einem Prozess gegen Ex-Militärs, dass er die beiden Ordensbrüder wenige Tage vor dem Staatsstreich vor der bevorstehenden Gefahr gewarnt habe, diese hätten aber sein Angebot, im Jesuitenhaus Schutz zu suchen, abgelehnt.
Der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel nimmt nicht an, dass Bergoglio ein Komplize der Diktatur war. „Aber“, schrieb er in einem Kommentar am Tag nach der Papstwahl, „ich glaube, dass es ihm an Mut fehlte, uns im schwierigsten Augenblick im Kampf für die Menschenrechte zu begleiten.“
Der Reformer?
Mit Franziskus, darin stimmen praktisch alle Kommentatoren überein, werden im Vatikan ein neuer Stil, eine neue Sprache, ein neuer Gestus einkehren. Vielleicht auch eine neue, volksnähere Frömmigkeit.
Wird der intellektuelle Pragmatiker auch die überfälligen Reformen einleiten? Als Kardinal hat Bergoglio, der neben Spanisch auch Italienisch, Englisch und Deutsch spricht, mehrmals betont, dass die Kirche sich öffnen müsse. „Wenn ich die Wahl habe zwischen einer Kirche, die sich beim Rausgehen auf die Strasse Verletzungen zuzieht und einer Kirche, die erkrankt, weil sie sich nur mit sich selbst beschäftigt, dann habe ich keine Zweifel“, zitierte ihn Spiegel Online. „Ich würde die erste Option wählen.“
Zölibat wird nicht fallen – kaum Frauen für das Priesteramt
Das Zölibat, wird auch Franziskus trotz dieses Bekenntnisses zu mehr Offenheit nicht fallen. Und er wird genauso wenig wie seine Vorgänger bereit sein, Frauen für das Priesteramt zuzulassen. Aber seine Biografie lässt hoffen, dass künftig in Rom vermehrt über Themen geredet wird, die Millionen von Menschen beschäftigen: Armut, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Ernährungssicherheit, Drogenprobleme, Menschenhandel und Korruption.
Wahrscheinlich musste wirklich ein Kardinal vom anderen Ende der Welt nach Rom kommen, damit die katholischen Kirche zumindest einen Teil der Glaubwürdigkeit zurückgewinnt, die sie durch die in der jüngeren Vergangenheit aufgedeckten Skandale verloren hat.