An die 4000 Musik-, Theater-, Tanz- und Filmfestivals soll es in Frankreich im Laufe des Jahres geben, die meisten davon im Sommer. Kein anderes Land kennt ein derartiges Angebot. Aber dieses Jahr könnten die in- und ausländischen Gäste, die sich auf Freilichttheater in Avignon, auf Opern in Aix-en-Provence oder auf irgendein nettes Spektakel in einem Dorf in der Provence, in der Normandie, im Limousin oder in den Pyrenäen gefreut haben, eine herbe Enttäuschung erleben.
Die sogenannten „intermittents“, Teilzeitbeschäftigte im Kulturbereich, ohne die nichts geht, drohen mit Streiks. Als Demonstration, dass es ihnen ernst ist, haben sie schon mal eine Tanzaufführung in Montpellier platzen lassen – und in der mitgelieferten Presseorientierung nehmen sie Avignon ins Visier. Das Theaterfestival von Avignon beginnt in ein paar Tagen; es gehört zu den angesehensten der Welt, versammelt jeweils Zehntausende von Zuschauern und bedeutet für nicht wenige der teilnehmenden Truppen einen Höhepunkt, auf den hin ein ganzes Jahr gearbeitet wird.
Die „intermittents“, eine französische Besonderheit
1936 hat Frankreich für die „intermittents“ einen Sonderstatus geschaffen, wie ihn kein anderes Land Europas kennt. Weil es in vielen Sparten des Kulturbereichs schon damals üblich war, Mitarbeiter nur zeitweise zu beschäftigen, garantierte man ihnen, wenn sie eine bestimmte Anzahl Stunden Arbeit geleistet hatten, einen finanziellen Ausgleich. Wer auf zehn Monate gerechnet 507 Stunden bezahlte Arbeit nachweisen konnte, was ungefähr einer dreimonatigen Ganztagsbeschäftigung entspricht, bekam aus der Arbeitslosenkasse monatliche Entschädigungen, die ein regelmässiges Einkommen und ein Leben am Limit des Existenzminimums garantierten.
Das „intermittents“-System läuft heute aus verschiedenen Gründen aus dem Ruder – und niemand weiss, wie es zu redimensionieren und zu sanieren wäre. Die Zahl der Betroffenen ist förmlich explodiert. 20´000 bis 30´000 sollen es nach dem Krieg gewesen sein, 50´000 Anfang der Neunzigerjahre – heute nennen vertrauenswürdige Quellen die monströse Zahl von 254´000, die sich als Teilzeitarbeiter im Kulturbereich bezeichnen. Allerdings erheben nur etwas mehr als 100´000 Anspruch auf die Entschädigungsleistungen; die andern halten sich mit wechselnden Jobs über Wasser. Die massive Vermehrung der „intermittents“ seit Kriegsende hat drei Gründe: Zum einen haben sich in allen Kultursparten die Angebote vermehrt; zum andern hat sich das Kulturpersonal spezialisiert und diversifiziert, immer mehr Berufe suchen Zuflucht unter dem Dach der „intermittents“; und schliesslich gab und gibt es zahlreiche Arbeitgeber im Theater-, im Musik-, im audiovisuellen Bereich, die sich aus Kostengründen, wie sie sagen, nur noch Teilzeitbeschäftigte leisten wollen.
Loch in der Kasse
Seit Jahren schaut die politische Klasse hilf- und tatenlos zu, wie sich das „intermittents“-System (schlecht) entwickelt, wie es ins Verderben steuert. Die Lage ist paradox. Da kreiert man in grösseren und kleineren Städten laufend neue Festivals, was ja schön ist – und kann sie finanziell nicht ausreichend alimentieren. Der Staat ist übermässig verschuldet, die Städte und Gemeinden müssen sparen - und da kommt die Kultur meistens zuerst dran. Man braucht die vielen „intermittents“, aber man engagiert sie für möglichst kurze Phasen. Die steigende Zahl von Entschädigungsbezügern hat dazu geführt, dass die Arbeitslosenkasse der „intermittents“ ein riesiges Defizit aufweist. Je nach Interessenlage sprechen die einen von einer Milliarde Euro, die fehlen würde, die andern von einer halben Milliarde.
Das Leben eines „intermittent“ ist wahrhaftig kein Zuckerschlecken. Man muss ständig auf Trab sein, sich x Mal bewerben, um einen Teilzeitjob zu ergattern, man muss hochgradig flexibel bleiben, bereit sein, Hunderte von Kilometern zurückzulegen, um ein paar Wochen an einem Film, einer Fernsehproduktion, einer Theateraufführung mitarbeiten zu können. Man muss sich zudem künstlerisch oder technisch à jour halten, auf eigene Kosten, versteht sich, um konkurrenzfähig zu bleiben. Ein „intermittent“ verdient 13´000 bis 17´000 Euro im Jahr, was selbst in der französischen Provinz kaum zum Überleben reicht. Von Paris nicht zu reden.
Drohende Eskalation
Die in Bedrängnis geratene Regierung will nun das Regime der „intermittents“ - wieder einmal - überprüfen, will es zu Ungunsten der Versicherten verschärfen: die Teilzeitbeschäftigten sollen mehr Sozialabgaben entrichten, die Bedingungen für die Entschädigungszahlungen sollen besser kontrolliert und strenger gehandhabt werden. Als Gegenleistung ist die Regierung bereit, der „intermittents“-Kasse 40 Millionen Euro zu überweisen, damit sie wenigstens anstehenden Verpflichtungen nachkommen kann.
Diese Massnahmen haben zur Eskalation geführt – ein grosser Teil der „intermittents“ ist empört und droht, zusammen mit verbündeten Gewerkschaften, mit Streiks. Das künstlerische Personal von Theaterensembles und freien Truppen ist gespalten: Einerseits unterstützt man natürlich die Sache der „intermittents“, anderseits hat man monatelang für ein Projekt gearbeitet und will es jetzt zeigen. Der Riss geht, wie man leidenschaftlichen Statements entnehmen kann, oft durch ein und dieselbe Person.
Die öffentliche und vor allem die veröffentlichte Meinung in der bürgerlichen und der Boulevard-Presse, bläst Wind in die glühende „intermittence“. Man hält die Teilzeitbeschäftigten für privilegiert, man ist nicht mehr bereit, eine Ausnahme für die Kultur zu akzeptieren. Es stimmt auch, dass im undurchsichtigen Regime der „intermittents“ relativ viel geschummelt wird: Da schaut einer, dass er nur die obligatorischen 507 Stunden ableistet, bezieht dann die ihm zustehenden Monatsentschädigungen und arbeitet schwarz in einem Zweit- oder Drittjob. Im gereizten Klima, das zur Zeit in Frankreich herrscht, tragen Zeitungsberichte, die solche Verstösse gegen das Sonderreglement genüsslich dokumentieren, natürlich nicht zur Solidarität mit den gebeutelten, allseits bedrängten „intermittents“ bei. Hinter der Ablehnung, die ihnen aus Teilen der französischen Gesellschaft entgegenschlägt, verbirgt sich etwas Gefährliches: ein Ressentiment gegen Kultur, Kulturereignisse, Kulturträger, Kultursubventionen überhaupt – und das ist etwas, auf das die „grande nation“ wahrhaftig nicht stolz sein kann.