Sonntagmorgen – der Hochgeschwindigkeitszug TGV hat den Bahnhof von Montelimar gerade verlassen und gleitet auf der hier nicht ausgebauten Strecke nur gemächlich an der Rhone entlang. Der Fluss führt ordentlich Wasser, ein Schwan gleitet um eine kleine Insel, ein Reiher schreitet durch das seichte Wasser am Ufer.
Ob der bis zum anderen Ufer der Rhone sehen kann? Vor einem riesigen Steinbruch im ersten Hügelzug der Ardeche ragen vier mächtige Kühltürme aus hellgrauem Beton in den Himmel, aus jedem steigt Dampf auf, und das will heissen: Alle vier Reaktoren des Atomkraftwerks Cruas Meyselle sind in Betrieb.
Den nördlichsten Kühlturm ziert eine grosse Freske, die ein kleines Kind darstellt, das unschuldig hockend im Wasser vielleicht mit Kieselsteinen spielt. Es hat glänzende, tiefschwarze Haare. Aus der Ferne könnte man meinen, es sei ein japanisches Kind. Es blickt auf zwei Windräder, die der Betreiber des Atomkraftwerks, Frankreichs Stromkonzern EDF, hier kürzlich aufgebaut hat. Eigentlich ein Hohn und ein hilfloser Versuch, den Passanten zu sagen: "Seht her, wir sind nicht nur auf Atomstrom ausgerichtet!" Dabei kommen fast 80% der französischen Elektrizität aus den 900 und 1300 MW Meilern des über 19 Standorte verstreuten Atomparks.
Kein Wort von Fukushima
Die zwei fast provozierend wirkender Windräder beim Atomkraftwerk Cruas sind nach Norden ausgerichtet, der dominierenden Windrichtung im Rhonetal, wo der Mistral oft tagelang unerbittlich von den Alpen her Richtung Mittelmeer bläst .
Die Menschen hier wissen: wer südlich eines AKWs lebt, ist bei einem Störfall nicht besonders gut dran. 30 Kilometer weiter südlich aber liegt in dieser Schneisse, einer der Hauptachsen des europäischen LKW- und Urlaubsverkehrs, schon das nächste AKW: Tricastin, wo nicht nur Strom produziert, sondern bei der Firma EURODIF auch Uran angereichert wird. Dieser Abschnitt des Rhonetals weist, vielleicht mit Ausnahme der Halbinsel Cotentin am Ärmelkanal im Nordwesten Frankreichs, europaweit die höchste Konzentration von Atomanlagen auf.
Drei Tage lang hat man hier die Lokalpresse gelesen, doch von Fukushima oder von den Auswirkungen auf das Leben mit der Atomkraft in diesem Landstrich las man kein Wort. Die Menschen scheinen in dieser Region, wo die Atomindustrie mit grossem Abstand der wichtigste Arbeitgeber und Steuerzahler ist, schon wieder zum Alltag übergegangen zu sein. Dass auch die Rhone einmal über die Ufer treten könnte und es im Rhonetal in vergangenen Jahrhunderten durchaus das eine oder andere Erdbeben gab, beeindruckt zwischen den Städten Bollène im Süden und Valence im Norden kaum jemanden.
Am Anfang war das Militär
Wenn hier einmal, und das kommt selten vor, AKW Gegner demonstrieren, dann nicht mehr als ein paar Dutzend. Dabei ist das AKW Tricastin auch schon seit 30 Jahren im Betrieb und hat gerade erst eine Laufzeitverlängerung für weitere 10 Jahre erhalten und in den letzten 3 Jahren gleich drei Zwischenfälle zu verzeichnen gehabt, die immerhin auf Stufe 2 der 7-stelligen Gefahrenskala eingeordnet werden mussten. Ein Weinanbaugebiet, der "Coteaux du Tricastin" hat es daraufhin immerhin vorgezogen, seinen Namen zu wechseln...
Doch man lebt in dieser Gegend zwischen Drome und Ardeche nun mal schon in der 3. Generation Tür an Tür mit der Kernenergie. Ende der 50er Jahre hatte die Armee diesen Standort auserkoren. Damals hiess er noch nicht Tricastin, sondern Pierrelatte. Dort wurde das Uran für Frankreichs erste Atombomben angereichert. Abfälle aus jener Zeit lagern, unter einem einfachen Erdhügel begraben, immer noch auf dem Gelände von Tricastin. Niemand hatte damals, Ende der 50er Jahre, daran gedacht, die Bevölkerung zu fragen oder auch nur zu informieren. Und die Bevölkerung war sogar zufrieden. Es gab Arbeit in Hülle und Fülle, und Wohnungen wurden gebaut. Ja, die Bevölkerung war sogar stolz auf diese erste Atomfabrik, wurde in Pierrelatte doch etwas produziert, was zum Grossmachtstatus Frankreichs beitrug.
Atomtechnik als Exportschlager
Hören die Menschen hier heute das Wort „Atomausstieg“, sehen sie überwiegend rot. Für sie, in der nahen und weiteren Umgebung der Atomanlagen von Cruas und Triscastin, wie an den restlichen 17 Standorten im Land mit den insgesamt 58 Reaktoren, würde bei einem Atomausstieg eine Welt zusammenbrechen. Und überhaupt: Auch nach Fukushima sind 55 Prozent der Franzosen laut einer jüngsten Meinungsumfrage gegen einen solchen Ausstieg.
Man darf nicht unterschätzen, dass weit über 100 000 Menschen in Frankreich in der Atombranche beschäftigt sind, dass die Atomtechnologie einer der führenden Sektoren der französischen Ökonomie ist und in einer exportschwachen Volkswirtschaft, mit einem Aussenhandelsdefizit von über 50 Milliarden Euro jährlich, einer der wenigen Exportschlager. Zumindest hätte die Atomtechnologie in den kommenden Jahren ein Exportschlager sein sollen.
Frankreich hatte noch jüngst ziemlich lautstark die internationale Renaissance der Atomenergie bejubelt. Die Atomlobby des Landes, die vor Selbstsicherheit strotzte, fühlte sich bestätigt: Schweden, das den Ausstieg rückgängig gemacht hatte, Italien, das einsteigen wollte. In Grossbritannien und vor allem in den USA schien der künftige Bedarf an Atomkraftwerken immens, ganz zu schweigen von den Perspektiven in China. Präsident Sarkozy machte sich, seit er gewählt worden war, höchstpersönlich im Ausland bei jeder Gelegenheit zum Fürsprecher der französischen Atomtechnologie, die mit dem neuen Europäischen Druckwasserreaktor EPR, wie man gerne betonte, auch noch einen neuen Reaktortyp, den der 3. Generation, den angeblichen Reaktor der Zukunft anzubieten hatte.
Anbruch schwerer Zeiten?
Doch da kam Fukushima dazwischen. Plötzlich wollen die potentiellen chinesischen Kunden erst mal die schon begonnenen Baustellen, rund ein Dutzend, einer Sicherheitskontrolle unterziehen. Italien gibt sich ein Jahr Zeit, bevor es über den Atomeinstieg entscheidet. Der Bau mehrer Dutzend Atomreaktoren in den USA gilt plötzlich nicht mehr als so selbstverständlich, und der Kuchen, von dem sich Frankreichs Atomindustrie ein gutes Stück abschneiden wollte, scheint zu bröseln.
Für das Aushängeschild der französischen Atomlobby zum Beispiel, den weltgrössten Atomkonzern AREVA ( Jahresumsatz 9, 5 Milliarden Euro, 75 000 Mitarbeiter) könnten schwere Zeiten anbrechen. In den ersten Tagen nach dem japanischen Erdbeben stürzten Areva Aktien täglich um 5 bis 9 Prozent, Rating Agenturen beginnen schon, den Konzern zurückzustufen. "Ich glaube, wir werden die nukleare Katastrophe vermeiden", insistierte Anne Lauvergeon, langjährige Generaldirektorin von AREVA drei Tage nach dem Erdbeben in Japan gleich in mehreren Fernsehstudios.
Die attraktive Frau mit den knallharten Gesichtszügen, die von amerikanischen Konkurrenten einst den Spitznamen "Atomic - Anne" verpasst bekam, redete, entgegen ihrer sonstigen Gewohnheiten, ungewöhnlich viel und oft. Überhaupt kommuniziert der gesamte französische Atomsektor dieser Tage auf eine Art und Weise, dass einem fast schwindlig wird. Die Atomsicherheitsbehörde ASN hält seit dem Erdbeben in Japan ein tägliches Briefing ab, die Experten der Strahlenschutz- und Reaktorsicherheitsbehörde tönen auf allen Kanälen. Es ist, als rede man ums Überleben und als dürfe auf keinen Fall der Eindruck entstehen, die französische Atomlobby reagiere wieder genau so wie damals nach Tchernobyl, als sie die Bevölkerung Frankreichs nach Strich und Faden belogen hatte.
Überall Katerstimmung
Für AREVA jedenfalls, dieses Unternehmen, das den gesamten Atom-Zyklus beherrscht, vom Uranabbau über die Urananreicherung, die Herstellung von Brennelementen bis hin zur umstrittenen Wiederaufarbeitung, geht es dieser Tage um viel. Doch auch Frankreichs Stromriese EDF muss sich Sorgen machen. Er betreibt die 58 Atomreaktoren im Land und macht jährlich rund 65 Milliarden Euro Umsatz, ist stolz darauf, seinen Atomstrom und sein Know-How zu exportieren. Das französische Unternehmen Framatome baut die Reaktorkerne, Alstom die Turbinen für AKWs – auch bei ihnen herrscht nach der Havarie in Fukushima Katerstimmung.
Doch all dies reicht nicht aus, damit in Frankreich eine echte Diskussion über den Atomausstieg in Gang kommen könnte. Natürlich haben Tages- und Wochenzeitungen jetzt dieses Thema vereinzelt in Titelgeschichten durchdekliniert. Doch mit wem sollen die Atomgegner in Frankreich eine echte Diskussion führen? Mit Ausnahme der Grünen ist in diesem Land das gesamte politische Establishement bis hin zu den Kommunisten und einschliesslich fast aller Gewerkschaften für die Atomenergie.
Und man musste nur die erste Reaktion von Präsident Sarkozy nach dem Erdbeben in Japan beobachten, um zu wissen, woran man ist. Atomausstieg sei absolut kein Thema, käme nicht in Frage . Zehn Tage später sagte er immerhin, in seiner gewohnt dohenden Art, jedes französische Atomkraftwerk, das die von der EU verodneten Stresstests nicht bestehe, werde umgehend geschlossen. Das hört sich gut an, doch man glaubt es ihm schlicht nicht, hat grösste Schwierigkeiten sich vorzustellen, dass Frankreichs Atomlobby es wirklich zulässt, seine AKWs von externen Experten in aller Unabhängigkeit kontrollieren zu lassen.
Die Atomlobby
Denn diese Atomlobby ist in Frankreich ein echter Staat im Staat und verfügt über mehr Macht, als so mancher Minister. Dominique Voynet zum Beispiel, die Ende der 90er Jahre unter Premier Jospin Umweltministerin war, erzählt gerne, dass ihr damals selbst als Ministerin regelmässig Daten und Informationen, welche die Atomindustrie und die Atomkraftwerke betrafen, von der Atomlobby vorenthalten wurden. Dazu passt, dass in der französischen Regierung für die AKWs nicht etwa das Umwelt-, sondern seit jeher, wie selbstverständlich, das Industrieministerium zuständig ist. Der derzeitige Industrieminister heisst Eric Besson. Er ist immer noch Bürgermeister und war Abgeordneter von Donzerre, einem kleinen Städtchen im Rhonetal …. neben der Atomanlage Tricastin.
Frankreichs Atomlobby, das darf man nicht vergessen, hat ihren Ursprung in der militärischen Nutzung der Atomkraft. Damals wurde zur Umsetzung von De Gaulles Atomwaffenprogramm das Atomenergiekommissariat CEA gegründet. Als später, nach dem Erdölschock 1975, Präsident Giscard d'Estaing ein gigantisches Atomenergieprogramm auflegte, wie es nur in einem extrem zentralistisch organisierten Staat wie Frankreich möglich ist, war dieses Atomenergiekommissariat ( CEA) ein ganz zentraler Faktor und kümmert sich seitdem auch um die zivile Nutzung der Atomenergie.
Hinter ihm verbirgt sich eine Kaste von Topingenieuren und Forschern, die seit 5 Jahrzehnten ausschliesslich aus zwei Elitehochschulen, Polytechnique und Mines, rekrutiert werden und so etwas wie die Atomforschungselite sind, die seit jeher grossen Einfluss auf die Politik ausübt.
Windkraft wird sabotiert
Dieses enorme Gewicht der Atomlobby in Frankreich hat u.a. dazu geführt, dass das Land, was Energiesparen und erneuerbare Energien angeht, um Jahrzehnte hinter seinen europäischen Nachbarn zurückliegt. Wer in Frankreich zum Beispiel ein ökologisches, energiesparendes Haus bauen will, muss das gesamte Baumaterial im Ausland kaufen und hat Schwierigkeiten, fachkundige Bauunternehmer zu finden. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Forschungsgelder für den Energiesektor seit jeher zu mindestens 90 Prozent in den Atomenergiesektor geflossen sind.
Und bis heute, so erzählt eine andere ehemalige Umweltministerin, Corinne Lepage, werde in diesem Land zum Beispiel ein brutales Lobbying gegen die Windkraft betrieben. Dahinter stecke ganz eindeutig die Atomlobby. Da die Windkraft heute in der Lage sei, so Madame Lepage, 15 bis 20 Prozent des Strombedarfs zu liefern, wolle man in einem Land, das fast 100ig auf Atomkraft setzt, natürlich nicht, dass 20 Prozent aus einer anderen Engergiquelle kommen, also sabotiere man die Windkraft. So einfach sei das.
Strompreiserhöhungen
Doch Frankreichs Atomlobby hat es dieser Tage wirklich schwer, ja scheint durch die Katastrophe in Japan ein wenig aus dem Häuschen. Jahrzehntelang lautete eines ihrer gebetsmühlenhaft vorgebrachten Argumente für die Atomenergie: "Dank unserer Technologie dürfen sich die Franzosen über niedrige Stromrechnungen freuen." In der Tat kostet die Kilowattstunde in Frankreich derzeit um 25 Prozent weniger als im europäischen Durchschnitt, um 40 Prozent weniger als beim Nachbarn Deutschland.
AKW Gegner in Frankreich aber argumentierten seit jeher, dieser niedrige Preis sei nicht der wahre Preis. Die Entsorgung der alten, aufgelassenen Atomkraftwerke, die eine unendliche Zahl von nicht kalkulierbaren Problemen mit sich bringt und auf jeden Fall Riesensummen kostet, sei im günstigen französischen Strompreis nicht mit einberechnet. Ausgerechnet jetzt, nach Fukushima, gab Frankreichs Atomstromproduzent EDF diesen Kritikern indirekt recht. Letzte Woche liess er durchblicken, die Franzosen müssten sich im Lauf der nächsten fünf Jahre auf Strompreiserhöhungen von rund 30 Prozent einstellen!