In der Schweiz gibt es nicht nur extremistische Linksradikale, die Israel hassen wie den Beelzebub, es gibt auch Rechtsradikale mit peinlichem religiösen Hintergrund – unter andern stark vertreten durch evangelikale Christen, die Israel ausschliesslich eschatologisch auf biblischem Hintergrund verstehen wollen. Dieser Brief soll alles andere als eine pauschale Anklage an christliche Israelfreunde sein. Denn die Mehrheit will den Staat der Juden und ihr Verhältnis zu ihm bestimmt so, wie es eine christliche Freundin (und Mitglied der Schweizer Jerusalemgruppe) beschreibt: „… obwohl unsere Freunde und unsere Familie bekennende Christen sind, will niemand von uns den Juden oder Israel etwas vorschreiben. Schon gar nicht punkto Religion.“
Der untenstehende Brief ist vor kurzem den Mitgliedern der Jerusalem-Gruppe gesandt worden. Er wurde für die Veröffentlichung im Journal21 leicht bearbeitet. Die Reaktion war gemischt, von Beifall bis zu unsachlich und beleidigt. Auch hier wird sehr viel unter den Tisch gewischt. Ich will bewusst keine Namen nennen. Von aussen kann nur auf Probleme aufmerksam gemacht werden. Diskutiert und gelöst werden müssen sie von den Mitgliedern selbst.
Liebe Freunde,
Seit einigen Jahren bin ich im Kontakt mit Mitgliedern der Jerusalem-Gruppe, vor allem mit einzelnen Mitgliedern, unter denen ich inzwischen gute Freunde gewonnen habe. Wir unterstützen uns gegenseitig in Gesprächen und schreibend. Auch bin ich auf eurem Verteiler. Das freut mich.
Schindluder mit dem Antisemitismus-Begriff
Doch in den letzten, sagen wir mal zwölf, Monaten hat sich in der Jerusalem-Gruppe etwas verändert. Wenigstens teilweise ist die bisherige Unterstützung Israels, begründet auf Sympathien für den demokratischen modernen Staat, einem Pro-Israelismus gewichen, dessen Motivation mehr als zweifelhaft ist. Er beruht auf religiösen evangelikalen Dogmen, mit der Endzeit im Visier (in der renitente Juden, die nicht zum Christentum übertreten wollen, in die Hölle verdammt werden sollen.)
Eine fundamentalistische Besserwisserei hat Einzug gehalten. Fakten werden nicht beachtet, Fragen nur noch sehr wenige gestellt – als wäre jeder ein Experte, obwohl es kaum einer ist. Reflexe statt Nachdenken scheinen überhand zu nehmen; wenn etwas als „anti-israelisch“, wahrgenommen wird, egal ob wirklich oder auch nur subjektiv so empfunden, wird hysterisch aufbegehrt, ohne es auch nur wirklich statt oberflächlich (oder überhaupt nicht) geprüft zu haben.
Dann werden E-Mails geschrieben, vor allem unter einander oder gar Briefe an Redaktionen, deren Mitarbeiter nun wirklich nicht alle Antisemiten sind. Mit dem Wort „Antisemitismus“ wird Schindluder getrieben und Leute, die es überhaupt nicht verdienen, damit „ausgezeichnet“.
Mit Bibelsprüchen ist kein moderner Staat möglich
Meine jahrzehntelange Erfahrung als Israeli hat mich vor allem zur Überzeugung gebracht, dass Israel kein Staat der jüdischen Religion sein darf, sondern ein Staat des jüdischen Volkes, in dem Minderheiten gleiche demokratischen Rechte und Chancen haben wie jüdische Bürger. Das Judentum besteht nur teilweise aus seiner Religion, die sich als einziges der jüdischen Kultur in Israel kaum weiterentwickelt hat. Wie jede andere Religion ist sie auch hier völlig rückwärtsgewandt und reaktionär. Radikales Judentum würde unseren jüdischen Staat ins Unheil führen, lässt sich doch mit Bibelsprüchen und antidemokratischem Gebahren kein moderner Staat führen.
Aus dieser Sicht finde ich es sehr störend, wenn sich heute jüdische und nichtjüdische „Israelfans“, denen vor allem zeitgemässes Schlüsselwissen über das heutige Israel und seine Geschichte (nicht nur die des alten vorstaatlichen Zionismus) fehlt. Sie sprechen meist kein Hebräisch und können sich deshalb nur ein begrenztes Bild über das Land und dessen Situation machen. Doch sind sie unter keinen Umständen bereit, ihre vorgefassten und oft veralteten Ideen einer Prüfung zu unterziehen. Kurz, sie sind kritikunfähig und völlig festgefahren in einer Sicht gegenüber Israel, die der Realität nicht entspricht.
Nicht im Sinne unseres jüdischen Vorfahren Jesus
Eine zweite Gruppe von „Israelfans“, der ich ein wenig ratlos gegenüberstehe, sind besserwisserische christliche Fundamentalisten, deren Motivation mir oft suspekt ist. Sind es Endzeitler, die tatsächlich wollen, dass wir Juden, wenn endlich und endzeitlich der Messias kommt, zur Hölle fahren, falls wir uns nicht für das Christentum entscheiden? Ist das die Motivation für die rabiate und ignorante Israelunterstützung dieser Kreise, die wahllos und übereifrig alles angreifen, was nur im entferntesten als antiisraelisch ausgelegt werden kann? Ich weiss es nicht, doch diese Frage lässt mich (aber auch andere Juden) nicht los.
Würde sich mein Verdacht bestätigen – ja dann, liebe Fundis und Evangelikale, dann lieber ohne euch. Unser jüdischer Vorfahre Jesus, als guter Mensch und Rabbi beschrieben, für Liebe und gegen Hass predigend, könnte sich darüber im Grab umdrehen. In diesem Zusammenhang muss daran erinnert werden, dass die Grundlage für den jüdischen Staat Israel nicht die Bibel, sondern der politische Zionismus eines Theodor Herzl ist. Israel wurde von prinzipiell säkularen Pionieren aufgebaut, nicht von gottesgläubigen Juden, die ihn teilweise noch heute ablehnen, ja bekämpfen.
Eiferertum ist Zeitverschwendung
Verschiedentlich habe ich einigen unter euch geschrieben, eure Pro-Israel-Tätigkeit den heutigen politischen Gegebenheiten anzupassen. Einander Briefe zu schreiben und damit zu prallen, wie man diesem oder jenem Redaktor eingeheizt habe, ist Zeitverschwendung und fällt jenen in den Rücken, die der lobenswerten Absicht sind, Israel sei als demokratischer Staat mit einem humanistischen Lebensstil zu stützen und zu verteidigen.
Ehud Barak hatte recht, als er sagte, Israel sei eine Villa im Dschungel. Mehr denn je entspricht das den Tatsachen. Ein Blick über die Staatsgrenzen genügt, um das zu bestätigen. Nicht nur das, sondern jegliche Hoffnung auf eine in absehbarer Zeit erfolgende Änderung in der arabischen Welt ist äusserst zweifelhaft. Baraks Aussage gilt vor allem in diesem Kontext.
Rassismus muss auch in Israel kritisiert werden
Wir leben gut in Israel, sind stolz auf seine Leistungen, beobachten aber kritisch Regierung und Mächtige im Lande. Es gibt noch viel zu tun und noch mehr zu ändern oder zu verbessern. Und im grossen Ganzen tun die Medien ihren Job - zu beobachten und Licht auf Fragwürdiges werfen - mit Erfolg und Wirkung. Israel ist eine äusserst lebendige Demokratie und vieles wird hinterfragt, so wie es in einer wirklichen Demokratie sein muss.
In den vergangenen Jahren hat sich leider in gewissen Kreisen ein Hass entwickelt, ein Rassismus gegen alles Fremde, wie Araber und Andersgläubige. Ein israelischer Faschismus, um es ehrlich zusagen. Das war nicht immer so. Dieser Zustand muss wieder enden und darf keinesfalls aus dem Ausland unterstützt werden. Phobien haben keinen Platz in der menschlichen Gesellschaft. Verallgemeinert darf nicht werden. Der Vergleich mit der arabisch-palästinensischen Welt ist unstatthaft, denn er bringt uns Israelis auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner mit unseren Feinden.
Geht unters Volk
Diese zu bekämpfen, darf nicht auf hirnlosen Reflexen beruhen, nicht auf Hysterie, sondern muss sich konzentreieren auf das Erhalten eines Charakters von Israel, auf den wir stolz sein können. So stolz wie auf Israels Erfolge in Technologien, Wirtschaft und Verteidigung sowie die seinen Feinden diametral entgegengesetzten menschlichen Werte.
Geht auf die Strasse, meine Freunde, geht unters Volk und führt die Diskussion dort, wo sie ankommen muss. Das Israel-Zelt bei der Pestalozziwiese an der Zürcher Bahnhofstrasse ist das Vorbild - wenn auch riskanter, als Briefe zu schreiben. Doch es gibt noch viele andere Möglichkeiten das Israel-Anliegen an die Öffentlichkeit zu bringen. Das, statt schon Überzeugte zu überzeugen – ein Leerlauf und eine völlig und ausschliesslich selbstbefriedigende Zeitverschwendung.
Mit lieben Grüssen, Euer Paul Uri Russak
(ehem. Co-Präsident des Schweizerischen Zionistenverbandes und Präsident von ARZA Schweiz, dem politischen Arm der weltweiten jüdischen Reformbewegung)