Die vollgestopften Strassen zwingen viele Pendler in die Züge, wo sie zwar auch wie Vieh zusammengedrängt sind. Aber zumindest bewegen sich diese vollgepferchten Wagen auf freiem Geleise und bringen ihre Ware rasch von Punkt A zu Punkt B.
Dieselbe Geradlinigkeit findet sich auch in der Schweiz, wo die SBB dem tyrannischen Gott Chronos bekanntlich bei jedem Fahrplanwechsel ein paar Minuten abtrotzt und ihre Passagiere noch direkter, noch schneller ans Ziel bringt. Aber im Unterschied zu Indien ist das Zugreisen für viele Schweizer inzwischen so alltäglich geworden, und auch so störungsfrei und komfortabel, dass es dem Auslandschweizer wie ein Ort der Alltagskultur vorkommt – statt einer blossen Verknüpfung zwischen zwei solchen Orten. Ich beginne jeden Sommeraufenthalt hier mit dem Luxus eines Ein-Monats-GA.
Forum von Öffentlichkeit
Eine Schweizer Freundin sagte mir letzthin, sie fahre auch deshalb gern in öffentlichen Verkehrsmitteln, weil sich da so viel Leben abspiele und Interessantes zu beobachten sei. Früher lief man bei einem Spaziergang oder einer Besorgung über den Hauptpatz eines Dorfs oder die Hauptstrasse einer Stadt entlang, grüsste Bekannte, schaute dem Treiben zu, machte seine Besorgungen. Heute ist der Zug derart Teil des Pendler-Alltags, dass er ein Forum von Öffentlichkeit geworden ist.
Als ich letzte Woche im Zug von Bern nach Zürich sass, konnte ich in meiner unmittelbaren Umgebung beobachten, wie sich zweimal ein kleiner Schwatz entwickelte, als treffe man sich auf der Piazza. Eine Spitalschwester von der Insel begrüsste eine ehemalige Kollegin, die im Tiefenau-Spital arbeitet und an ihrem Sitz vorbeilief. Sie setzten sich in mein Abteil, tauschten Erinnerungen aus der Lehrzeit aus und verglichen die Ausstattung ihrer Operationssäle – und die Allüren ihrer Chefs. Im Abteil gegenüber sass derweil ein Verkäufer von Arzneimitteln, der eine Stunde lang auf sein Gegenüber eindrosch, als sei er verantwortlich dafür, dass die Apotheker in der Region Burgdorf ständig ‚bocken‘, wenn er sie von neuen Produkten überzeugen will.
Unerwünschte Öffentlichkeit
In erster Linie ist der Zug heute eine Geschäfts-Aussenstelle. Es geht ja noch an, wenn die Büroarbeit mit dem Laptop stattfindet. Doch das Handy schafft eine erzwungene, unerwünschte Öffentlichkeit. Auf der Fahrt von Winterthur nach St.Gallen musste ich dem Geschäftsführer einer grossen Umweltorganisation zuhören, der soeben seine neue Finanzchefin verloren hatte, und kurzfristig eine neue einstellen musste. Nun war er auf dem Weg zu deren Vor-Vorgänger, der inzwischen bei Stadler Rail untergekommen ist. Er wollte ihn bitten, die Neue auf ihren Job vorzubereiten und gab ihm vom Zug aus bereits einige Fragen durch.
Aber eine Zugfahrt mit iPhone ist ja auch eine Gelegenheit, seine sozialen Haushaltsarbeiten durchzuführen. Ich sass im Dreier-Abteil, dort wo die Treppe in den ersten Stock eines Doppelwagens mündet. Von unten hallte mir die laute Stimme eines Lehrers/Professors entgegen, und die Schallwirkung liess mich jedes Wort verstehen. Am anderen Ende der Leitung war eine Studentin, die im Examen durchgefallen war, offenbar in der gleichen Schule, wo der laute Herr im Prüfungsgremium sitzt. Zuerst gab es eine Schelte – „Ich hä dr bim beschte Wiü ke Vierer chönne gä“ - , dann aber kam plötzlich ein neür Ton (väterlich? erotisch?) in seine Stimme. „Abr Liebs....Liebs! Los mr doch zü“. Sie müsse eben in der nächsten Runde genau auf seine Ratschläge hören. Dann werde sie sicher durchkommen: „Das weisch du doch – wänn du uf mi losisch, wird’s immer güt“.
Exhibitionismus
Noch hellhöriger wurde ich in einem späten ‚Besenwagen‘-Zug von Zürich nach Bern. Der Ausdruck kam aus dem Mund eines etwa vierzigjährigen Manns in Jeans und glattrasiertem Haupt, das Hemd über dem Bauch bis zum Reissen gespannt. Eine halbe Stunde lang betrieb er in schönstem Berner Hochdeutsch eine regelrechte Anmache. Das willige Opferlamm befand sich in Basel („Komm nach Bern, das fegt mehr als Basel“), es war offensichtlich das erste Gespräch mit einer fremdsprachigen Frau („Wie sagt Ihr ‚Massage‘ in Eurer Sprache?“). Er sprach von seinen Kleiderpräferenzen, dann nach ihren, fragte sie nach ihrer Schuhgrösse, und ob sie Fuss-Massage auch liebe.
Ich fühlte mich nicht als Voyeur, oder wie das akustische Pendant heissen mag (‚Ecouteur‘). Ich ärgerte mich vielmehr über so viel Exhibitionismus, obwohl das Wort falsch gewählt ist – er lachte vielmehr in die Nacht hinaus, und die paar Passagiere, die sich hie und da Blicke wechselten, nahm er gar nicht wahr. Ich dachte mit Nostalgie an den ‚Mobile Jammer‘, von dem mir mein Schwiegersohn erzählt hat. Damit kann man offenbar im Umkreis von zwanzig Metern jedes Mobiltelefon massiv stören. Erhältlich in England, da in der Schweiz verboten.
"Mich hat noch keine angeschaut"
Da ist mir die direkte Anmache schon lieber. „Auch beim Geheimdienst?“, hörte ich plötzlich, von einem Mann, der sich direkt vor mir aufgepflanzt hatte. Ich sass wieder im Sitz neben der Treppe. „Ja, natürlich, das sieht man doch, oder?“, war meine unüberlegte Antwort. Das ‚..oder?‘ war bereits zuviel, denn es bot dem Kerl die Chance, sofort abzusitzen und die Frage zurück zu spielen. (Später, nachdem er mir längst die Siesta verdorben hatte, wollte ich wissen, was es mit dem ‚Geheimdienst‘ auf sich hatte. „Oh, damit mache ich die Leute ‚gwundrig‘ und verwickle sie in ein Gespräch“).
Das tat er denn auch, bis nach Bern. Ich erfuhr, dass er soeben seinen Job als Behinderten-Pfleger verloren hat, dass er aber plane, bei Bundesrätin Sommaruga vorstellig zu werden. Aber eigentlich sei es ihm egal, „die meisten Rollstuhl-Patienten sind ohnehin immer schlechter Laune“. Und als er Hans Marti gepflegt habe, den Bruder des Pfarrer-Dichters, habe ihn dieser die meiste Zeit gar nicht erkannt. Dann sei da immer der Pädophilie-Verdacht, wenn er Kinder betreue. „Das musse ich nicht haben“.
Aber einsam sei er, das gebe er zu. Ob er wohl noch Chancen habe, eine Familie zu gründen, als 48-Jähriger, fragte er mich. Bisher sei jede Beziehung schnell zerbrochen. „Welche Frau lebt schon gern in einem Wohnwagen? Und dann noch mit kriminellen Roma als Nachbarn!“. Als er erfuhr, dass ich in Indien wohne, wollte er wissen, ob die Inderinnen wirklich so sanftmütig seien, wie sie aussehen. Ob ich ihm vielleicht einen Kontakt vermitteln könne? Bisher habe er nämlich noch nie gepunktet. „Ich schaue diesen Bollywood-Schauspielerinnen zu, wenn sie in Bern filmen. Aber die sind nur mit ihren Fingernägeln beschäftigt. Mich hat noch keine angeschaut“.