Die Szene läuft während des Nachtessens in einem Restaurant der Erewaner Altstadt nur kurz über den Flachbildschirm, aber sie macht tiefen Eindruck. Sie zeigt, wie im benachbarten Georgien der amtierende Präsident Saakaschwili seinen bitteren Rivalen Iwanischwili, den überraschenden Sieger bei den wenige Tage zuvor stattgefundenen Parlamentswahlen, mit festem Händedruck vor seiner Residenz empfängt. Die beiden sprechen ein paar Worte ins Mikrophon und ziehen sich dann zu einem 40-minütigen Gespräch in die Präsidentenresidenz zurück. Iwanischwili wird als Wahlsieger künftig das Amt des Ministerpräsidenten ausüben und damit die bisher nahezu unbeschränkte Machtfülle von Staatschef Micheil Saakaschwili empfindlich einschränken.
Gesittete Machtablösung
Im Kaukasus sind solche Szenen einer gesitteten Machtablösung so etwas wie eine Sensation – und jedenfalls Zeichen eines demokratischen Fortschritts. Allerdings, ganz freiwillig habe sich der selbstbewusste Saakaschwili zur raschen Anerkennung des Wahlsiegs seines verfeindeten Gegenspielers Iwanischwili kaum bequemt, meint später in Tbilissi ein dort seit Jahren ansässiger deutscher Journalist. Da habe wohl Washington, das den jungen Präsidenten in den vergangenen Jahren materiell und politisch energisch gestützt hatte, hinter den Kulissen deutlich Druck gemacht.
Der beleibte Taxifahrer in der georgischen Hauptstadt ist begeistert über den Wahltriumph des Milliardärs Bidsina Iwanischwili. Bereits sei das Benzin billiger geworden, schwärmt er gegenüber dem Fahrgast. Wie die meisten älteren Bürger im Kaukasus spricht er auch Russisch. Der Geschäftsmann Iwanischwili verfügt tatsächlich über viel Geld. Sein Vermögen, das er hauptsächlich in Russland verdient hat, wird auf mindestens sechs Milliarden Dollar geschätzt. Eine Milliarde soll er schon für soziale und kulturelle Projekte in seiner Heimat ausgegeben haben.
Doch mit noch so grosszügigen Gaben aus dem Füllhorn Iwanischwilis wird die rückständige georgische Wirtschaft, die wegen mangelnder Verdienstmöglichkeiten Hunderttausende von Bürgern ins Ausland treibt, nicht zum Blühen gebracht werden können. Das Land mit seinen 4.5 Millionen Einwohnern ist für den Absatz seiner Agrarprodukte dringend auf bessere Exportmöglichkeiten angewiesen. Aber der russische Markt, der traditionell bei weitem wichtigste Absatzplatz für georgische Weine und Gemüse, ist seit Jahren verschlossen, nachdem der hitzköpfige Saakaschwili sich mit dem nicht minder herausfordernden Kremlherrscher Putin überworfen hatte.
Abchasien und Südossetien – unverheilte Kränkungen
Nicht wenige Georgier hoffen nun, dass Iwanischwili schon dank seiner langen geschäftlichen Erfahrungen mit Russland der Mann sein könnte, der das gespannte Verhältnis ihres Landes zum grossen Nachbarn jenseits des Kaukasusgebirges politisch und wirtschaftlich wieder besser ins Lot bringen könnte. Ob ihm ein solches Balance-Kunststück gelingen wird, ist noch völlig ungewiss. Denn die stolzen Georgier sind in ihrer Mehrheit nicht bereit, sich gut zwanzig Jahre nach Erlangung der staatlichen Souveränität wieder unter russischer Dominanz einzurichten. Die unter Saakaschwili dynamisch vorangetriebene Annäherung an den Westen soll nicht zurückgedreht werden, sagt der neue Regierungschef Iwanischwili.
Und was geschieht mit den beiden verlorenen früheren georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien, die sich 2008 nach einem kurzen – von Saakaschwili kopflos mitverschuldeten - Krieg zwischen russischen und georgischen Truppen definitiv von Tbilissi abgespalten hatten? Anna, unsere junge georgische Führerin, macht sich keine Illusionen. Diese Gebiete würden nie mehr georgisch sein, das werde Russland zu verhindern wissen - obwohl ausser Nicaragua und Venezuela bisher kein Land die fiktive Eigenstaatlichkeit dieser beiden Territorien anerkannt hat. Kommt hinzu, dass mit grösster Wahrscheinlichkeit die Mehrheit der Südosseten und Abchasen selbst bei grosszügigen Autonomieangeboten eine Rückkehr unter die georgische Flagge ablehnt. Iwanischwilis Argument, Georgien müsse derart attraktiv werden, dass Abchasien und Südossetien sich eines Tages freiwillig wieder dem georgischen Staatsgebieten anschliessen wollten, tönt utopisch. Damit dürften sich bei weitem nicht alle Georgier trösten lassen. Für sie bleibt die Abspaltung der beiden Nordprovinzen eine schwere nationale Kränkung.
Armeniens Anlehnung
Verglichen mit Georgien sind die territorialen und machtpolitischen Probleme Armeniens allerdings ungleich explosiver. Armenien ist mit rund 3 Millionen Einwohnern das kleinste und ärmste Land unter den drein südkaukasischen Ländern. Nirgends haben wir auf unsern Fahrten so viele zerfallende, traurig vor sich hin rostende Fabriken aus der Sowjetzeit und armselige Dörfer gesehen wie auf der armenischen Seite des Grenzgebietes zu Georgien.
Doch bei allen materiellen und aussenpolitischen Bedrängnissen ist Armenien das Land mit der ausgeprägtesten, am tiefsten verwurzelten nationalen Identität. Ähnlich wie in Georgien gründet das armenische Nationalbewusstsein auf einer eigenen christlichen Kirche, deren Anfänge bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen und einer eigenen armenischen Schrift, die sich auch während der langen russisch-sowjetischen Oberherrschaft gegen die Dominanz des kyrillischen Alphabets behaupten konnte. Eine Führung durch das Matenadaran, das stilvolle und äusserst sorgfältig eingerichtete Zentrum der armenischen Schriftkultur in Erewan, zählt zu den eindrucksvollsten Höhepunkten unter den kulturellen Sehenswürdigkeiten im Südkaukasus.
Armenien ist auch das Land in dieser Region, das sich politisch am engsten an die ehemalige Kolonialmacht Russland anlehnt. Das hat durchaus rationale Gründe. Die kleine Republik lebt mit zwei aufstrebenden Nachbarn – der Türkei und Aserbaidschan – praktisch auf Kriegsfuss und sucht deshalb in der intensiven Verbindung zu Moskau nach einem machtpolitischen Gegengewicht. Die Türkei und Aserbeidschan haben ihre Grenzen zu Armenien seit vielen Jahren gesperrt.
Gescheiterte Entspannung mit der Türkei
Der Konflikt zwischen Ankara und Erewan dreht sich um das leidvolle Kapitel der Massenvernichtung von Armeniern durch türkische Nationalisten während des Ersten Weltkrieges. Die Armenier verlangen die Anerkennung dieses blutigen Verbrechens, bei dem Hundertausende von Menschen in die syrische Wüste verschleppt wurden, dabei verhungerten, verdursteten oder direkt umgebracht wurden, als Völkermord. Die türkische Regierung wehrt sich gegen diese Etikettierung, obwohl auch einzelne türkische Persönlichkeiten wie der Literaturpreisträger Orhan Pamuk in diesem Zusammenhang von einem Genozid sprechen.
Vor drei Jahren hatten türkische und armenische Diplomanten nach Geheimverhandlungen in Zürich zwei Protokolle unterzeichnet, die zur Aufnahme bilateraler Beziehungen und der Öffnung der Grenzen führen sollten. Doch die erhoffte Entspannung scheiterte schliesslich an der Einmischung Aserbeidschans und teilweise auch an innerarmenischen Widerständen. Aserbaidschan, ein dank eng verwandter Sprache und muslimischer Mehrheit wichtiger Partner der Türkei, verlangte die Verknüpfung der vorgesehenen Annäherung mit der Lösung des Nagorni Karabach-Konflikts.
Nagorni Karabach – tickende Zeitbombe
Der Streit um Nagorni Karabach wiederum ist unter allen Konflikten im Transkaukasus unzweifelhaft die am lautesten tickende Zeitbombe. Im Zusammenhang mit dem Zerfall der Sowjetunion explodierte der Streit zwischen 1988 bis 1993 um das mehrheitlich von Armeniern bewohnte Gebiet in Aserbaidschan zu einem grausamen Krieg, durch den um die 25 000 Menschen getötet wurden. Auf beiden Seiten wurden Hunderttausende zu Flüchtlingen, von denen unzählige immer noch auf eine menschenwürdige Behausung warten. Seit 1994 ist ein äusserst labiler Waffenstillstand in Kraft. Die Armenier von Nagorni Karabach haben sich als unabhängiger Staat erklärt, der jedoch von keinem andern Land anerkannt wird, und halten rund 14 Prozent des offiziellen aserbeidschanischen Territoriums besetzt – was erheblich über die Grenzen ihres beanspruchten Gebiets hinausgeht.
Der Konflikt hat historische Wurzeln, die bis in die vorsowjetische Zeit zurückreichen. Er wurde aber entscheidend gefördert durch den willkürlichen und mit politische Hintergedanken gefällten Entscheid Stalins, Nagorni Karabach der neuen Sowjetrepublik Aserbaidschan zuzuschlagen. In die Vermittlungsbemühungen zu einer Lösung dieses bitteren Streits haben sich zeitweise ranghohe Regierungsvertreter Amerikas, Frankreichs und Russlands eingeschaltet, ohne dass greifbare Annäherungen zwischen Erewan und Baku zustande gekommen sind.
Schlüssel in Moskau?
Der Schlüssel für eine dauerhafte Beilegung des Konflikts liege in Moskau, erklärt Nabil, unser aserbaidschanischer Führer zu dem Thema. Ob das wirklich zutrifft, lässt sich allerdings nicht beweisen. Nicht ohne Logik ist das Argument, dass Armenien wegen dieses Konflikts gezwungen ist, sich enger mit Russland zu verbünden, was zumindest teilweise eine gewisse Kompensation für den einst absolut beherrschenden Einfluss des Kremls im Südkaukasus ausmacht.
Ungeachtet der Anlehnung Erewans an Russland scheint Aserbaidschan ein zunehmend gefährlicher Gegner für Armenien zu werden. Denn anders als das wirtschaftlich verarmte Binnenland verfügt der mit Erdöl und Erdgas gesegnete Anrainerstadt am Kaspischen Meer offenkundig über reichlich sprudelnde Finanzmittel, von denen laut ausdrücklicher Verkündung der Machthaber in Baku ein bedeutender Anteil in den Ausbau der militärischen Kräfte investiert wird. Armenien muss das zu denken geben, denn bei diesem Rüstungswettlauf wird das kleine Land trotz bedeutender Unterstützung aus der armenischen Diaspora kaum mithalten können. Es gibt Stimmen, die behaupten, dass nicht zuletzt diese Diaspora im Verein mit den Hardlinern in Nagorni Karabach dafür verantwortlich sei, dass Annäherungen bei dem gefährlichen Streitfall bisher nicht zustande gekommen seien.
Öl für den Baku-Boom und als Schmiermittel für den Machtapparat
Aserbaidschan ist das flächenmässig grösste Land im Südkaukasus – rund doppelt so gross wie die Schweiz. Es hat über 9 Millionen Einwohner, drei Mal so viel wie Armenien und doppelt so viel wie Georgien. Über 90 Prozent der Aserbaidschaner bekennen sich zum muslimischen Glauben, aber in Baku ist kaum eine Frau mit Kopftuch zu sehen. Aserbaidschan ist zwar Mitglied des Europarats, doch von ernsthaften demokratischen Fortschritten, wie sie in den letzten Jahren in den beiden andern südkaukasischen Republiken in Gang gekommen sind, ist in den Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen nichts zu finden.
Das Land wird von der Alijew-Dynastie und den mit ihr liierten Clans und Profiteuren beherrscht. Der Begründer der Dynastie, Haydar Alijew, war zu Sowjetzeiten KGB-Chef in Aserbaidschan. Er stieg später sogar ins Moskauer Politbüro auf. Nach dem Zerfall des Sowjetimperiums gelang es ihm in den Wirren der ersten Unabhängigkeitsjahre, die Macht erneut an sich zu reissen – diesmal unter nationalreligiöser Flagge. Obwohl schon seit bald zehn Jahren tot, prangt sein Bild überall im Land wie dasjenige eines Nationalheiligen.
Es gebe einfach zu viel Geld in Baku, bemerkt Nabil, unser aserbaidschanischer Führer bei der Einfahrt in die Hauptstadt. Und er gibt freimütig zu verstehen, dass ihm nicht wohl ist, ist in diesem weltstädtischen Gewimmel und der rastlosen Ausbreitung von Hochhäusern und Luxuspalästen. Er selber lebt in einer Provinzstadt, wo das Leben ungleich beschaulicher dahinfliesst. Baku und sein rasantes Wachstum entlang einer weitgeschwungenen Bucht am Kaspischen Meer ist das spektakulärste Zeichen für die mächtigen Geldströme, die durch die forcierte Ausbeutung der Erdöl- und Erdgasvorkommen in dieses Land fliessen. Sie sind, bei aller Anerkennung für die Investitionen in die Sanierung bedeutender Kulturdenkmäler aus früheren geschichtlichen Epochen, auch das wichtigste Schmiermittel für einen möglichst störungsfreien Betrieb des oligarchischen Machtapparats der Alijew-Dynastie.
Vergleich mit dem Nordkaukasus
Dennoch - trotz anhaltenden Gefährdungen und oft auffallender Armut sei das Fazit gewagt: Gut zwanzig Jahre nach der Auflösung des Sowjetreiches haben die drei Republiken Armenien, Georgien und Aserbeidschan insgesamt erhebliche Fortschritte zur Festigung einer selbstbewussten Identität und zur Annäherung an das demokratische Europa – dem sich viele Bürger kulturell zugehörig fühlen –vorzuweisen. Verglichen jedenfalls mit den zerrütteten, von religiösem Extremismus, staatlicher Willkür und wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit dominierten Zuständen im Nordkaukasus, dem das Putin-Regime keine Perspektiven zu geben vermag, erscheinen die Republiken des Südkaukasus als positiver Kontrast.