Bill Foster in «Falling Down» will nach Hause, das heisst zurück zu einem Zustand, wo für ihn noch alles gut war, weil er gewisse Privilegien genoss. Nicht anders geht es heute den Modernisierungsverlierern in den alten Industrieländern: Auch sie sind fixiert auf ein Gestern, an eine Ordnung. Sie bot denen im Zentrum Schutz, indem sie viele an den Rand verwies und so die Konkurrenz einschränkte. Den entfesselten Wettbewerb – sowohl auf der wirtschaftlichen wie auf der kulturellen Ebene – sehen die trudelnden Bürger der Mittelschicht mittlerweile als Hauptgrund für ihren realen oder gefühlten Absturz.
So ist der populistische Protest, der sich zur Zeit überraschend machtvoll formiert, natürlich reaktionär – im eigentlichen Wortsinn, bildet er doch die Reaktion auf den Modernisierungsschub der letzten Jahrzehnte, genauer noch: die Reaktion auf Folgen dieser Modernisierung, die so nicht vorherzusehen waren und wohl auch nicht ausdrücklich bezweckt. Das Projekt der Öffnung, das im Westen die gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte bestimmte, versprach primär umfassende Chancengleichheit. Dass der gesteigerte Konkurrenzdruck neue Ausschliessungen schaffen würde, war die unliebsame Überraschung.
Entgrenzung und Inklusion
Im Projekt der Öffnung war ein tiefgreifender Umbau des westlichen Sozialvertrags angelegt. Die entsprechende gesellschaftliche Umwälzung folgte im Wesentlichen zwei von unterschiedlichen politischen Trägerschaften lancierten Programmen (wobei deren Interessen in einigen Punkten parallel liefen, in andern allerdings auch kollidierten). Da ist einmal das Programm des Wirtschaftsliberalismus, das darauf abzielt, den Einfluss des Staates zurückzudrängen und die nationalen Ökonomien auf einen globalen Freihandel zu öffnen. Hier geht es um die Aufhebung von Kontrollen, auch um das Niederreissen von Grenzen, mit dem Ziel, die möglichst reibungslose Zirkulation von Waren, Geld und Menschen zu ermöglichen.
Diesem Programm einer grossen Entgrenzung steht dasjenige einer kulturellen Liberalisierung gegenüber, das primär auf die Integration all derer zielt, welche sich in den Nachkriegsgesellschaften noch an den Rand gedrängt sahen. Entsprechend stehen hier als Leitthemen die Gleichstellung der Frauen, die Überwindung ethnisch bedingter Ausgrenzung und generell die Aufwertung des Fremden und Andersartigen. Dieser Kulturliberalismus – getragen hauptsächlich von der Linken – verschiebt den Fokus konsequent vom Zentrum auf die Peripherie und verfolgt so ein Programm der grossen Inklusion, ein Konzept, das ökonomisch schon im Projekt der Mittelschichtsgesellschaft angelegt war.
Rückstoss des Modernisierungsschubs
Entgrenzung wie Inklusion, beide Programme sind zunächst einmal mit utopischem Anspruch angetreten, unter dem Versprechen nämlich, traditionelle Barrieren zu schleifen und die praktisch unbegrenzten individuellen Potentiale freizusetzen. Beide Utopien portieren auch je ihre Lichtgestalt: Auf der einen Seite steht das Konzept des freien Unternehmers, der – nicht länger gegängelt vom Staat – zum Wohl aller seine Visionen realisiert. Auf der anderen finden wir das Konstrukt des selbstbestimmten Individuums, das sich innerer wie äusserer Andersheit zu öffnen und sich damit stets wieder neu zu entwerfen vermag.
Beiden Gestalten ist es gegeben, Auseinandersetzungen zu provozieren, Differenz und Vielheit zu schaffen und damit die Gesellschaft – sei es wirtschaftlich, sei es kulturell – zu bereichern. Jenseits bürokratischer oder traditioneller Schranken sollte unbegrenzte Entfaltung für alle möglich werden.
Soweit die Utopie. Bei der Umsetzung sind dann allerdings Komplikationen aufgetreten. Natürlich erzeugen die Freisetzung von Konkurrenz und der Zusammenprall kreativer Individuen stimulierende Effekte. Doch der entfesselte Wettbewerb hat eben auch einen Pferdefuss: Er bringt zwingend Verlierer hervor. Längst nicht alle können bei dem futuristischen Drive mithalten, mit dem die Avantgarden derzeit vorpreschen. So fällt in deren Rücken der Tross immer weiter zurück – und genau dort stecken die Billy Fosters von heute fest, die jetzt zu meutern anfangen.
Die Wut der Abgehängten richtet sich nicht zuletzt gegen das Tempo des Vorrückens, das sie als brutale Selektion wahrnehmen. Ganz offensichtlich haben sie aufgehört, den Zurufen zu glauben, es würde schon werden, wenn sie sich bloss mehr anstrengten. Sie wissen längst, dass Haltungen aus der Nachkriegszeit im heutigen Existenzkampf wenig hilfreich sind. Aber charakterliche Prägungen lassen sich nun einmal nicht auswechseln wie alte Reifen. Und eben noch waren ihre Skills und Einstellungen ja gefragt. Der politisch und kulturell konservative Flügel der Wirtschaftsliberalen hofiert sogar heute noch den alten Bürgertugenden.
Das Paradox neuer Ausschliessung
Es mag paradox erscheinen, doch die Programme von Entgrenzungund Inklusion haben zu einer neuen Ausschliessung geführt, und zwar direkt im Zentrum, im Herzen der Mittelschichtgesellschaft. Die Populisten erhalten ja nicht primär von denen Zulauf, die bereits durch die Maschen gefallen sind. Viele haben den wirtschaftlichen Abstieg noch gar nicht wirklich erfahren, werden aber von dessen Gespenst umgetrieben. Das verwundert auch wenig angesichts der Drohszenarien von Digitalisierung und Rentenabbau.
Tatsächlich sind die Aussichten für die Angehörigen der alten Mittelschicht wenig berückend. In der ökonomischen Dimension lässt sich die Dialektik der Modernisierung ja relativ leicht lesen: Die faktische Globalisierung des Arbeitsmarktes hat die Arbeit in den herkömmlichen Industrieländern teuer gemacht. Auf längere Frist werden viele Arbeitnehmende hier also schlechtere Bedingungen in Kauf nehmen müssen – oder ihre Beschäftigungen verlieren. Das ist immer weniger eine Frage des guten Willens und der Qualifikation.
Wer nicht in jene fluide Sphäre aufsteigt, wo hochbezahlte Spezialisten über Landesgrenzen hinweg zirkulieren, der hat auf lange Frist das Nachsehen. Das wirtschaftsliberale Programm ist aber unter dem Versprechen angetreten, den Wohlstand aller zu mehren. Es gab da mal die Mär von der kollektiven Anhebung der Boote. Nun mag der Kuchen im Ganzen tatsächlich grösser geworden sein, aber unter den neuen Spielregeln werden die Stücke immer ungleicher verteilt. Für die Billy Fosters ist der Punkt abzusehen, wo ihnen nur noch die Krümel bleiben.
Ausgrenzung durch Pluralismus
Das ist aber noch nicht alles. Ab den fünfziger Jahren ist eine breite kulturliberale Bewegung gegen die patriarchale, bürgerlich-konservative Ideologie angetreten, und zwar unter entschieden emanzipatorischen Vorzeichen, denn die Spitze des Angriffs richtete sich vor allem gegen die vorherrschen Ausschlüsse.
Der forcierte Individualismus der Achtundsechziger bildete das Gegengift gegen reale Unterdrückung, aber auch gegen den Opportunismus, der jene verlängerte. Ziel war die volle Integration der Marginalisierten: der Frauen, der Farbigen, der Andersartigen. Dabei hatten Bürgerrechtsbewegung und Emanzipation zunächst einmal Macht und Mehrheit gegen sich; da durfte Toleranz schon exklusiv – also intolerant – eingefordert werden.
Doch in der Zwischenzeit haben sich die Verhältnisse von Grund auf verändert: Die offenen Normierungszwänge haben sich verflüchtigt und einer breiten individuellen Wahlfreiheit Platz gemacht. Dementsprechend geht der Druck nicht mehr so sehr von wenigen sichtbaren Machtzentren aus, sondern baut sich auf durch die schiere Masse individualistisch entschränkter Lebenspläne und Interessen. Mit dieser Pluralität aber kommen längst nicht alle klar. Diejenigen, die von der Vielheit überfordert sind, fallen zurück und schliessen sich ein im Reduit verhärteter Identitäten.
Im kulturellen Ghetto
So allerdings stellen sie sich erst recht ins Abseits, eben weil im ethischen Diskurs der Eliten ein grundlegender Wertewandel eingetreten ist: Die kulturliberalen Ideale haben längst von der alternativen zur etablierten Position gewechselt und bestimmen nun die Massstäbe des politisch Korrekten. Im offiziellen politisch-kulturellen Selbstverständnis gelten die alten Identitäten mit all ihren Exklusionen als out, ja als tabu. Wer herkömmliche Grenzziehungen – sei’s moralischer, sei's räumlicher Art – fordert, wird als heillos rückständig eingestuft, wenn nicht gar als faschistoid.
Die kleinbürgerlichen Werthaltungen eines Bill Foster zeigen sich diskreditiert, weil sie ihrem Wesen nach statisch und territorial ausgerichtet sind. Mit ihnen sehen sich aber auch ihre Träger ausgeschlossen, als soziale Quantité négligeable an die Peripherie verwiesen. Die Verlierer eines Kulturkampfs, der gegen gesellschaftliche Ausgrenzung geführt wurde, finden sich jetzt selbst im kulturellen Ghetto. Kein Wunder, tönt es in ihren Ohren wie blanker Hohn, wenn der kulturliberale Chor weiterhin das Hohelied der Öffnung absingt. Denn in dessen Refrain erscheinen sie als die Deppen.
Pas de deux der Eliten
Was ihre gesellschaftspolitischen Visionen betrifft, stehen sich das wirtschafts- und das kulturliberale – also das linke – Lager praktisch diametral gegenüber. Und dennoch gibt es da einen Konvergenzpunkt, nämlich ihren Modernismus, das heisst die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber traditionellen Schranken. Natürlich ist dabei der Fokus unterschiedlich gesetzt: Für die Neoliberalen verkörpert sich das überholte Alte in staatlichen Regulierungen sowie den nationalen Grenzen, für die Linksalternativen in konservativ-patriarchalen Wertvorstellungen, die an hergebrachten Hierarchisierungen festhalten und damit Ausgrenzung verlängern.
Beide Fraktionen aber setzen im Grundsatz das Besondere vor das Allgemeine und treten somit ein für die freie Entfaltung des Individuums. Dieser gemeinsame Nenner bildet die Basis für jene Koalition der politischen Gegenspieler, welche den so genannten «dritten Weg» unter Clinton, Blair oder Schröder ermöglichte. In gewisser Weise gehören kulturelle und wirtschaftliche Liberalisierung ja auch zusammen, denn die Abseitsstellung grosser Bevölkerungsgruppen ist mit der Vorstellung offener Märkte kaum zu vereinbaren. Man stelle sich nur einmal vor, was auf den Arbeitsmärkten los wäre, wenn Zuwanderer – oder gar die Frauen – daraus ausgeschlossen blieben.
Von den Liberalen beider Couleurs wurde – und wird – die grosse Öffnung als Weg zur Chancengleichheit verkauft, als ein Projekt, bei dem letztlich alle gewinnen. Doch genau dieses Versprechen hat sich nicht erfüllt. Über dem gesteigerten Konkurrenzdruck erodiert im Westen die mittlere Schicht, und beträchtlichen Teilen der unteren droht je nach Land sogar die völlige Marginalisierung. Nicht anders als Bill Foster fühlen sich die, die es trifft, betrogen. Aus ihrer Sicht sind die liberalen Utopien gescheitert, und sie haben dafür die Zeche zu zahlen; daher die Wut, die in Deutschland der AfD und noch trüberen Gruppierungen Zulauf bringt und die in Frankreich Leute mit Signaljacken auf die Strasse treibt. Sie spüren die Komplizenschaft zwischen wirtschaftlichen und kulturellen Eliten und zeigen gleich beiden den Finger.