Indien zählt 400 Millionen Migranten. Sie sind Beweis einer erstaunlichen Mobilität, aber auch des existenziellen Drucks, der sie auslöst.
Eines der Bücher des Jahres war für mich eine Biografie über Jesus den Nazarener. Nicht dass ich in meinen alten Tagen wieder den Schoss der Kirche suche. Aber ich wurde neugierig, als ich die Rezension eines Jesus-Buchs las, dessen Autor Reza Aslan ein iranischer Muslim, naturalisierter Amerikaner und Religionshistoriker ist. ‚Zealot‘ – ‚Eiferer‘ – ist eine Biografie dieses messianischen Aufwieglers und Endzeitpropheten, wie es diese zur Zeitenwende in Palästina in Vielzahl gab; und sie alle wurden fast routinemässig vom jüdischen Establishment und den römischen Besetzern aufgebracht und hingerichtet.
Dass gerade dieser Dutzend-Rebell es schaffte, eine Weltreligion zu gründen, war einer der interessanten Aspekte meiner Lektüre. Was ich aber auch lernte (und vielleicht bin ich der Einzige, der dies nicht wusste) war die Einsicht, dass die Evangelien mit den Fakten von Jesus‘ Biografie sehr grosszügig umgingen, weil es ihnen darum ging, den messianischen Anspruch des Wundertäters zu untermauern. Die Reise des Ehepaars Josef und Maria nach Bethlehem war höchstwahrscheinlich eine Erfindung, um der Prophezeiung nachzukommen, wonach der Messias in Bethlehem geboren würde; demselben Zweck diente die Geschichte von der Flucht nach Ägypten – non e vero, ma ben trovato.
Migration ist so alt wie die Vertreibung aus dem Paradies
Ebendiese archetypischen Geschichten von Flucht und Vertreibung sind es wohl, die zum Erfolg des Christentums beitrugen. Sie sprechen eine Befindlichkeit an, die so universal wie existenziell ist. Migration (um den wertneutralen Ausdruck zu wählen) ist so alt wie die Vertreibung aus dem Paradies. Flucht vor dem Lebensbedrohenden (Krieg, wirtschaftliche Not, Vertreibung) war die eine Seite, das Versprechen von Sicherheit, Wohlstand, Frieden die Kehrseite derselben Münze. Migration ist Abschreckung und Anziehung in Einem; sie ist und bleibt eine Konstante im Leben eines grossen Teils der Menschheit.
Dies wird mir immer wieder in den Monaten nach dem jährlichen Grossen Regen bewusst. Wenn ich hier in Awas über meine Gartenmauer schaue, sehe ich, wie entlang der Böschungen und in den Stoppelfeldern am Dorfrand kleine Feldlager entstehen. In der milden Morgensonne hängen farbige Saris und lange Röcke über ausgespannten Schnüren, das aufgeschichtete Metallgeschirr blitzt vor Sauberkeit, frisch mit warmer Asche gescheuert. Die Steppdecken sind noch auf dem Boden ausgebreitet, schlafende Kinder unter den hauchdünnen Moskitonetzen. Sie schützen die Kleinkinder nicht nur vor Moskitos, sondern auch vor Schlangen. Die Erwachsenen machen sich an Feuerstellen zu schaffen oder verschwinden ins Gebüsch, um ihre Notdurft zu verrichten.
Extrem verwundbar
Es sind Familien von Wanderarbeitern, die jedes Jahr herziehen und oft bis zum nächsten Monsun bleiben. Während des Tages sind die beiden Lager in meiner Nachbarschaft leer, da alle – Frauen, Männer, Kinder - am Arbeitsplatz sind. Niemand findet es nötig, den Hausrat zu bewachen, und ich könnte bei meinem Spaziergang zwischen den Töpfen und aufgerollten Decken hin- und herlaufen. Alles wirkt leicht, unbeschwert – und extrem verwundbar.
Eine der beiden Gruppen kommt aus einer Adivasi-Region im Inneren Maharashtras, und sie arbeiten in der Ziegelei des Dorfpräsidenten, formen die Lehmkuchen, legen sie zum Trocknen aus, schichten sie zu stumpfen Pyramiden auf, feuern sie, laden sie auf Lastwagen. Die andere Familiengemeinschaft, etwa dreissig Leute, kommt aus Jharkhand im Osten Indiens, über tausend Kilometer von der Alibagh-Küste entfernt. Es ist das dritte Jahr, dass ein Arbeitsagent sie hier dem Bau-Unternehmer Srinivas Bhagat vermittelt hat. Zuvor hatte derselbe Makler, so erklärte mir ein Arbeiter namens Prakash, sie in den Panjab geschickt; und mehrere Jahre hatten sie selber, in wechselnder Zusammensetzung, in Gurgaon bei Delhi Arbei gefunden.
400 Millionen Binnen-Migranten?
Mein Blick über die Mauer liesse sich in Indien unendlich oft wiederholen. Das wirtschaftliche Gefälle zwischen urbanen und ländlichen Regionen, Trockenzonen und solchen mit Bewässerung, dichtbevölkerten Küstenregionen und dem verkehrsarmen Hinterland ist der Motor, und die Migration dessen Transmissionsriemen, Anziehung und Abschreckung in Einem. Mit ihrer billigen Arbeitskraft erhöht sie in einer Region die Produktivität von Industrie und Handel, und mit Geldtransfers stellt sie in der anderen das Überleben sicher.
Es sind nicht nur Arbeitssuchende, die, millionenfach über den Subkontinent verstreut, jahraus jahrein in Bewegung sind; zu ihnen gesellen sich auch Flüchtlinge vor Dürre, ökonomischen Konflikten und sozialer Ausgrenzung. Millionenfach? Die letzte Volkszählung von 2011 hat erstaunliche Zahlen zutage gefördert. Ein Drittel der Bevölkerung, rund vierhundert Millionen, sind dort als ‚Binnen-Migranten‘ eingestuft. In Grossstädten wie Delhi und Bombay machen sie sogar 45% Prozent der Bevölkerung aus. In der 15 Millionenstadt Delhi kommen vier Millionen allein aus Bihar. Eine weitere überraschende Statistik: Frauen machen 70-80 Prozent der Migranten aus. Sie arbeiten als Putzfrauen, Köchinnen und Kindermädchen in Haushalten, und auf Baustellen üben viele dieselbe schwere Körperarbeit wie die Männer aus.
„Sans-Papiers“ ohne Rechte
Die Zahl mag übertrieben sein, da der Zensus Slumbewohner ohne Identitätsausweise vielleicht als Migranten registriert, obwohl sie schon Jahre dort wohnen mögen. Dennoch zeigt die Grössenordnung, was für ein wichtiges ökonomisches und soziales Ausgleichventil Migration darstellt. Das heisst nicht, dass sich Migranten im eigenen Land in Sicherheit fühlen können, da ihnen der Staat die Rechte garantiert, die sie ihnen als Bürger des Landes zustehen. Er tut es nicht.
Eine kürzliche Studie der UNESCO hat gezeigt, dass Migranten meist in einem rechtlosen Raum leben. Die Meisten sind an ihrem temporären Lebens- und Arbeitsort nicht registriert, haben keine schützenden Ausweise, leben illegal auf fremdem Boden. Als ‚Sans-Papies‘ kommen sie nicht in den Genuss der staatlichen Armutsprogramme, sei es für Gesundheit, Bildung oder verbilligte Nahrungsmittel. Wenn es zum Verdrängungswettkampf um Arbeitsplätze kommt, sind sie die ersten Opfer, da sie als Saisonarbeiter keinen Arbeitsschutz geniessen. Und beim Lohn sind sie auf das korrekte Verhalten des Arbeitgebers angewiesen. Und sie dürfen nicht wählen, obwohl gerade sie die Menschen sind, die die Idee einer einigen Nation mit der physischen Durchmischung täglich leben und damit stärken.
Opfer und Täter waren Migranten
Der Preis fehlender Sesshaftigkeit ist auch psychisch hoch. Das grelle Schlaglicht des brutalen Vergewaltigungsfalls vor einem Jahr in Delhi hat es drastisch vorgeführt. Opfer wie Täter waren Migranten, und sie zeigten das Doppelgesicht der Mobilität. Die Familie der jungen Frau war aus Bihar nach Delhi gezogen, um der einzigen Tochter die Möglichkeit einer guten Berufsausbildung zu geben, während ihr Vater als Gepäcklader auf dem Flughafen arbeitete. Die fünf Täter lebten in einem Slum, ohne Familien, ohne feste Jobs, korrupten Slumlords und Polizeibeamten ausgesetzt, der Alkohol als einziges Placebo. Es war symptomatisch, dass sich der Gewaltakt in einem Bus vollzog, während er kreuz und quer durch die nächtlichen Strassen der Hauptstadt fuhr.