Sollten sich die Berichte von der Rückeroberung von Isjum, Kupjansk und Balakljia bestätigen, wäre das für Putin eine Demütigung erster Güte. Nein, es läuft zur Zeit für die Russen nicht nach Plan. Die Ukrainer dringen im Osten überraschend rasch vor. Auch im Süden melden sie Geländegewinne. Russische Funktionäre verlassen offenbar überhastet die Ukraine Richtung Russland. Selbst die nach langen Kämpfen im Juni eroberte Stadt Lyssytschansk steht wieder in Reichweite der Ukrainer.
Die Rückeroberung von Isjum, Kupjansk und Balakljia wird in der Ukraine als Zeichen dafür gewertet, dass die ukrainische Armee – vor allem auch dank westlicher Waffen – in der Lage ist, die Russen zurückzuwerfen.
Das russische Verteidigungsministerium gab den «Rückzug» bekannt, «um sich neu zu formieren».
Isjum und Kupjansk sind wichtige Eisenbahnknotenpunkte, über die die Russen militärisches Material ins Land schafften. Die russischen Streitkräfte hatten das Gebiet um Isjum und Kupjansk seit den ersten Kriegswochen besetzt.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskjy sagte, die Ukrainer hätten tausend Quadratkilometer zurückerobert. Britische Beamte im Verteidigungsministerium erklärten, die Ukrainer seien fünfzig Kilometer in das zuvor von Russland beherrschte Gebiet vorgedrungen.
Im Juni fanden in den Zwillingsstädten Sewerodonezk und Lyssytschansk die bisher blutigsten Kämpfe dieses Krieges statt. Auf beiden Seiten starben Hunderte Soldaten. Die Eroberung der beiden Städte durch die Russen war die erste schwerwiegende Niederlage für die Ukraine. Putin triumphierte.
Jetzt kommen überraschende Nachrichten aus Lyssytschansk. Der Leiter der regionalen Militärverwaltung für Luhansk, Serhiy Hayday, erklärte, dass die Stadt das Ziel der neuen ukrainischen Offensive sei.
Die Ukrainer am Stadtrand von Lyssytschansk?
Hayday erklärte am Samstagabend, ukrainische Einheiten hätten bereits den Stadtrand von Lyssytschansk erreicht. Würde die Stadt erneut in die Hände der Ukrainer fallen, wäre das eine Blamage erster Güte für die russische Armee.
Hayday sagte, dass Bewohner von Lyssytschansk berichten, dass russische Beamte überstürzt aus der Stadt «abhauen». Nördlich von Lyssytschansk, in der Stadt Kreminna, haben ukrainische «Partisanen» nach Informationen von Hayday die ukrainische Flagge gehisst.
«Ziemlich schwierig»
Der Chef der pro-russischen «Volksrepublik Donezk», Denis Puschilin, gab auf seinem Telegram-Kanal zu, dass die Lage im Norden von Donezk «ziemlich schwierig» geworden sei.
Offenbar hat bereits eine Fluchtbewegung Richtung Russland eingesetzt. Hayday sagte, in der pro-russischen «Volksrepublik Luhansk» und in ihrer Hauptstadt Luhansk habe ein Exodus pro-russischer Funktionäre Richtung Russland begonnen. Überprüfen lässt sich das nicht. Fest steht jedoch: An einem Grenzübergang nach Russland ist es am Nachmittag nach Angaben ukrainischer Journalisten zu einem Stau gekommen.
Lyssytschansk war die letzte nennenswerte Stadt, die von den Russen eingenommen wurde. Anschliessend gelang es ihnen nicht, weiter in die benachbarte Region Donezk vorzustossen. Die Ukrainer dominieren noch immer mehr als die Hälfte der Region Donezk.
Vorstoss im Süden
Doch die Ukrainer haben offenbar nicht nur im Osten, sondern auch im Süden Erfolg. Nataliya Gumenyuk, eine Sprecherin des Südkommandos der ukrainischen Armee, sagte, man sei an der südlichen Front bei Cherson «zwischen zwei und mehreren Dutzend Kilometern» vorgerückt.
Ein Fall der Stadt Cherson wäre eine militärische und vor allem psychologische Katastrophe für die Russen. Sie haben deshalb ihre erfahrensten Truppen in die Gegend beordert. Diese fehlen jetzt im Osten. Ukrainische Beamte erklärten, die russischen Soldaten hätten sich rund um Cherson «eingegraben».
50’000 tote Russen?
Nach Angaben des Generalstabs der Streitkräfte der Ukraine sind im Krieg bisher 52’250 russische Soldaten getötet worden. Westliche Geheimdienstkreise nennen tiefere Zahlen.
Laut dem ukrainischen Generalstab verloren die Russen bisher 2’136 Kampfpanzer, 4’584 gepanzerte Kampffahrzeuge, 1’259 Artilleriesysteme, 311 Mehrfachraketenwerfer, 162 Luftabwehrsysteme, 239 Flugzeuge, 212 Helikopter, 3’426 Kraftfahrzeuge 15 Schiffe/Boote, 898 Drohnen und 215 Marschflugkörper (Cruise Missiles).
Trotz ukrainischen Fortschritten ist nichts entschieden. Selenskyj sagte, im Osten würden nach wie vor heftige Kämpfe stattfinden. An der Südfront, rund um Cherson, leisten die Russen heftigen Widerstand. Die Ukrainer hören nicht auf zu betonen, dass sie zusätzliche schwere westliche Waffen bräuchten, um die Russen in Schach zu halten und zu vertreiben.