Da sind sie wieder, diese Frisch-Sätze, treffsicher und wie in Stein gemeisselt, diese Miniaturen, die in ihrer Konzentriertheit Stoff für ein ganzes Buch hergeben, diese Kollegenporträts, die so entlarvend nur einer entwerfen kann, der auch sich selbst nicht schont. Max Frisch hat diese Kunst des Lapidaren von jeher beherrscht. Im „Berliner Journal“ hat er sie noch einmal perfektioniert. Etwa, wenn er schreibt: „Mein „soziales Engagement begann schleichend wie mein Wohlstand, der (das glaube ich mir) nie mein Ziel war.“ Oder wenn er von sich selbst bekennt: „Ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber.“ Wenn er Miniaturen entwirft wie diese: „Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiss, was er sonst tun soll.“ Oder wenn er einen Kollegen wie Günter Grass apostrophiert mit dem Satz: „Anruf von einer Redaktion genügt, und er verlautbart.“ Das ist vernichtend, aber Frisch kann es sich erlauben, weil auch über ihn selbst Sätze zu lesen sind wie diese: „Meine Hast vor dem Spiegel; der zeigt mir meine Unzumutbarkeit für M. Dieser verfettete Alte, der bin ich!“
Zu Beginn des Jahres 1973 war Max Frisch, zusammen mit seiner damaligen Frau Marianne nach Berlin gezogen und hatte dort erneut angefangen, Tagebuch zu schreiben. „Einer der vermeintlichen Gründe, warum ich nicht (oder nie lange) in Zürich wohne“, heisst es gleich in einer der ersten Aufzeichnungen, „weil dort zu viele mich kennen auf der Strasse, in einer Wirtschaft.“ Das Adjektiv „vermeintlich“ ist typisch für Frisch, der seinen eigenen Beweggründen misstraut und ganz genau weiss, wie sehr es ihn schmerzen würde, von niemandem auf der Strasse oder in einer Wirtschaft erkannt zu werden. Mit einer Aufzählung entsprechender Begegnungen in Berlin gibt er seinem Misstrauen recht.
Andere, weniger fadenscheinige Gründe für den Wohnungswechsel waren eine Schaffenskrise und eine angeschlagene Ehe. Frisch erhoffte sich von Berlin neue Impulse und vielleicht auch einen letzten Aufschub vor dem endgültigen Älterwerden. Das Thema war schon im „Tagebuch 1966 – 1971“ zentral gewesen. Jetzt spitzt es sich zu. „Das Bewusstsein, dass ich noch drei oder vier Jahre habe, brauchbare Jahre“, schreibt er, „aber es wird kein Alltagsbewusstsein, daher immer wieder Erschrecken. Vor allem beim Erwachen. Darüber ist mit niemand zu sprechen.“ Frisch war 62, als er diesen Gedanken notierte. Es waren ihm noch fast 20 Jahre gegeben: Jahre, in denen so bedeutende Werke erscheinen sollten wie „Montauk“ und „Der Mensch erscheint im Holozän“.
Doch das konnte der Tagebuchschreiber zu Beginn des Jahres 1973 nicht wissen. Das Gefühl, an Schaffenskraft eingebüsst zu haben und in einer Sackgasse zu stecken, war echt und das Tagebuch-Schreiben deshalb auch eine Art Flucht aus der Krise. „Ich lebe jetzt ohne Vorsatz“, heisst es mehr als einmal. Aber auch: „Ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil ich andern irgendetwas zu sagen habe… Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zuhause zu sein.“ Max Frisch war immer ein Zweifler in eigener Sache gewesen. Hier, in dieser Berliner Zeit, ist er es mehr denn je. Dass er sich in einer Art Moratorium befand und aus der Krise Neues hervorgehen würde, kann man im Nachhinein deutlich erkennen. Frisch ahnte es wohl, konnte aber noch nicht wissen, wohin es ihn führen würde. „Nachlassen der Erfindungskraft“, notiert er im März 1973, „aber gleichzeitig kommt etwas hinzu, was nicht ohne weiteres eine Folge des Nachlassens ist: ein geschichtliches Interesse an der eigenen Biographie und an der Biographie anderer, die man zu kennen gemeint hat, ein Interesse an der Faktizität, die ich bisher nur als Material missbraucht habe, nämlich willkürlich gesehen oder nicht gesehen, in Literatur verdrängt.“ Fast genau ein Jahr später, ganz am Ende der hier publizierten Eintragungen, findet sich der Satz: „Keine Ahnung, wie weit diese Reise allein mich führt; wahrscheinlich ist es die letzte NY-Reise.“
Im März 1974 brach Max Frisch zu einer Lesereise in die Vereinigten Staaten auf. Zurück kam er in Begleitung der jungen Amerikanerin Alice Locke-Carey und mit einem Stoff im Gepäck, der unter dem Titel „Montauk“ zu einem seiner erfolgreichsten Werke werden sollte. Das „Berliner Journal“ ist deshalb so interessant, weil es so etwas wie das Scharnier zwischen den beiden Phasen im Leben des Autors bildet: den Selbstzweifeln eines sich mehr und mehr abhanden kommenden alternden Autors und dem Aufbruch zu einer neuen Liebe und einem neuen Werk. Ins alte Leben konnte Max Frisch danach nicht mehr zurückkehren. Die Ehe mit Marianne ging in die Brüche, nachdem die Erzählung „Montauk“ 1975 in die Buchhandlungen gekommen war. Max Frisch liess Berlin hinter sich und kehrte nach Zürich zurück. Nachzulesen wäre dies wohl in den Heften 3 bis 5 (1974 - 1980) des „Berliner Journals“. Doch diese bleiben weiterhin unter Verschluss, weil sie zu privat sind und die Persönlichkeitsrechte der Ehefrau massiv verletzen würden. Auch die hier vorliegenden Hefte 1 und 2 sind aus eben diesen Gründen nicht vollständig abgedruckt. Pünktchen kennzeichnen zahlreiche Auslassungen und erklären den Titel des Buches, der ehrlicherweise „Aus dem Berliner Journal“ und nicht „Berliner Journal“ lautet.
Man mag das bedauern, wie man es auch bedauert, dass eine Publikation des Briefwechsels von Max Frisch und Ingeborg Bachmann nach wie vor am Widerstand der Bachmann-Erben scheitert. Zu begrüssen ist die auszugsweise Publikation gleichwohl. Denn im Gegensatz zu den umstrittenen „Entwürfen zu einem dritten Tagebuch“ besitzen zumindest die ersten beiden Hefte des „Berliner Journals“ Werkcharakter und waren vom Autor nach Ablauf der Sperrfrist ausdrücklich für eine Veröffentlichung vorgesehen. Anders wäre ein Eintrag wie der folgende nicht zu erklären, in dem es heisst: „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vor allem doch wieder ein Selbstschutz; ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht.“ Der Passus findet sich nicht zufällig auf dem Schutzumschlag des Buches. Er ist gewissermassen editorisches Programm, sowohl was die Scham des Schreibenden wie auch dessen Rücksichtnahme gegenüber anderen betrifft.
Max Frisch war sich also der Ambivalenz seines Unternehmens durchaus bewusst. Er gibt zu, dass er nicht nur für sich selbst, sondern durchaus schon im Blick auf spätere Leser schreibt. Und er weiss, dass man nicht ehrlich gegenüber sich selbst sein kann, ohne dabei auch andere zu verletzen. Deshalb darf man annehmen, dass er mit den Auslassungen einverstanden gewesen wäre, zumal wenn es sich dabei um Stellen handelt, die mehr das voyeuristische denn das literarische Interesse seiner Leserschaft befriedigt hätten.
Auf den locker gesetzten 170 Seiten findet sich immer noch genug Stoff, der die Veröffentlichung rechtfertigt und die Lektüre mehr als nur lohnt. Neben brillanten Kürzestgeschichte und Analysen der eigenen Befindlichkeit und den glänzend geschriebenen Porträts seiner Schriftstellerkollegen Uwe Johnson, Günter Grass, Hans Magnus Enzensberger und Alfred Andersch sind dies vor allem jene Passagen, in denen Max Frisch sich mit Ost-Berlin, der DDR und dem Sozialismus auseinandersetzt. Hier zeigt sich die ganze Schärfe seiner Beobachtungsgabe wie auch seine politische Intelligenz, die ihn genauer als andere erkennen liess, was Anpassung, was Opportunismus und was wahre Gesinnung war. Wie er die Mitarbeiter des Verlags Volk & Welt, die Genossen beim Schriftstellerverband, aber auch befreundete Autoren wie Christa Wolf, Günter Kunert oder Wolf Biermann beschreibt, gehört zu den Kabinettstücken des „Berliner Journals“ und zeigt, wie kritisch Max Frisch sein konnte, ohne dabei je selbstgerecht zu werden.
Die Eintragungen des Jahres 1973 enden mit dem Satz: „Es wäre noch einiges zu sagen, o ja, sogar viel, aber es müsste sehr genau gesagt sein und einfach, d.h. ohne literarische Ambition; Flaschenpost.“ Genauer und einfacher als mit diesen Worten des Autors lässt sich Anlage und Wert des „Berliner Journals“ nicht beschreiben. Gut, dass diese Flaschenpost ihr Publikum nun erreicht hat.
Max Frisch: „Aus dem Berliner Journal“, hrsg. Von Thomas Strässle, Suhrkamp, Berlin 2014, Sfr. 28.90.
Literaturhaus Basel, 18. Febr. 2014, 19.00 Uhr: Lesung und Diskussion mit Thomas Strässle und Peter von Matt. Moderation: Klara Obermüller.