Pakistan und die Vereinigten Staaten brauchen einander. Die beiden wichtigsten Zugänge nach Afghanistan für allen Nachschub der amerikanischen und der anderen Nato-Truppen führen über Pakistan. (Es gibt noch andere Wege, nördlich über Zentralasien, doch diese sind von Lufttransporten nach Innerasien abhängig). Die von den Amerikanern bekämpften Rebellen in Afghanistan benützen die Stammeszonen auf der pakistanischen Seite der Grenze als Unterschlupf und Aktionsbasen.
Das macht die USA abhängig von der Zusammenarbeit mit Pakistan. Umgekehrt kann die pakistanische Armee nicht ohne die gewaltigen Unterstützungen an Geld und Waffen auskommen, die sie aus den USA erhält. Die beiden Staaten bezeichnen sich offiziell als „Partner im Krieg gegen den Terrorismus“. Doch die Beziehungen sind immer schwierig gewesen, und die Schwierigkeiten wachsen gegenwärtig stark an.
Geheimdienst auf der Seite islamistischer Kämpfer
Die pakistanische Armee hat über Jahrzehnte mit radikalen islamistischen Gruppen zusammengearbeitet, und es gibt viele solide Anzeichen dafür, dass diese Zusammenarbeit noch andauert. Der militärische Geheimdienst Pakistans, ISI (Interservice Intelligence) hat die bewaffneten afghanischen Islamisten, zuerst mit Hilfe und Zustimmung aus Washington, gegen die russischen Truppen in Afghanistan unterstützt.
Die pakistanische Armee und die Sicherheitsdienste waren führend beteiligt an der späteren Machtergreifung der Taliban in Afghanistan. Islamistische Kampfgruppen dienten dem ISI auch dazu, den Streit mit Indien um Kaschmir nicht zur Ruhe kommen zu lassen und grosse Teile der indischen Armee und Polizei in Kaschmir zu binden. Es gab auch Terrorakte, die direkt gegen Indien gerichtet waren. Islamistische Kampfgruppen aus Pakistan führten sie durch. Die Inder sind überzeugt, dass diese Gruppen als Werkzeuge Pakistans eingesetzt wurden.
Asylland der Taliban
Als die Taliban 2001 von den Amerikanern besiegt und aus Afghanistan vertrieben wurden, fand ihre Führung Asyl in Pakistan. Von dort aus kehrten die Taliban nach Afghanistan zurück. Ihre oberste Führung geniesst bis heute Asyl in Pakistan. Die amerikanischen Militärs sind sich bewusst, dass ein bleibender Sieg über die Taliban nur zu erreichen ist, wenn sie ihre Schlupfwinkel in den pakistanischen Stammesgebieten verlieren. Seit Jahren schon drängen die USA Pakistan, gegen die Taliban dort vorzugehen und die Herrschaft des pakistanischen Staates bis an die Grenzen von Afghanistan auszudehnen.
Die pakistanische Armee hat einige, für sie recht verlustreiche und für die dortigen zivilen Bevölkerungen katastrophale, Vorstösse in die Stammesgebiete unternommen. Sie dürfte jedoch gar nicht in der Lage sein, die ausgedehnten und wilden Grenzregionen und deren 5 Millionen paschtunischen Stammesangehörigen vollständig zu kontrollieren. Dies ist noch keinem der im Indischen Subkontinent herrschenden Staaten gelungen. Die Engländer hatten die Stammeszone errichtet, weil sie nicht in der Lage waren, die Stammesregionen ihrem Kolonialreich einzuverleiben.
Heute sind es nicht nur die unbotmässigen Paschtunenstämme, die zu kontrollieren wären, sondern darüber hinaus die kleinen, aber offensiv vorgehenden Gruppen von islamistischen Radikalen, einschliesslich Osama Bin Ladens und seiner Anhänger. Wahrscheinlich sagen sich die Strategen des ISI, dass sie mit diesen Gruppen wie bisher zusammenleben müssen, und hoffen, dass sie sie nur beaufsichtigen können, wenn sie sie unterstützen, mit ihnen zusammenarbeiten, um sie auf ausländische Ziele (in Kaschmir, in Indien) anzusetzen.
Blutige Gegenangriffe der pakistanischen Taliban
Das Vorgehen der Armee gegen sie und ihre Schlupfwinkel hat die islamistischen Bewaffneten zu einer Gegenoffensive veranlasst. Als „pakistanische Taliban“ gingen sie mit blutigen Terroranschlägen gegen die pakistanische Zivilbevölkerung vor. Die Amerikaner versuchen nicht nur mit Worten sondern auch mit Taten, die Pakistani zu veranlassen, „mehr zu tun“, um die Stämme und Islamisten zu kontrollieren. Ihr Mittel sind die Helikopter, Raketen und Drohnen Schläge auf vermutete Schlupfwinkel der Taliban und der Qaida-Kämpfer in den Stammesgebieten.
Diese Schläge sind der Bevölkerung verhasst, weil sie immer wieder zu zivilen Opfern führen. Die pakistanischen Offiziere und Behörden protestieren regelmässig scharf gegen die „Verletzung der pakistanischen Souveränität“ durch die grenzübergreifenden Angriffe der Amerikaner. Dennoch dulden sie den Einsatz amerikanischer Drohnen von pakistanischen Basen aus, was bei den Amerikanern das Gefühl aufrecht erhält, die Proteste dienten nur zur Beruhigung des Volkes. In Wirklichkeit seien die pakistanischen Verantwortlichen mit den Luftschlägen in mindestens einigermassen einverstanden.
Immer neue zivile Opfer
Diese labile Balance ist durch die jüngsten Entwicklungen in Pakistan erschüttert worden. Die Armee hat grosse Teile ihrer Bestände eingesetzt, um in den überschwemmten Gebieten, die ein Fünftel des ganzen Landes ausmachen und über 20 Millionen Menschen ins Elend treiben, erste Hilfe zu leisten. Die Amerikaner haben ihrerseits die Übergriffe nach den Stammesgebieten gesteigert. Im September war es eine Rekordzahl von 21 Angriffen, immer wieder mit vielen zivilen Opfern.
Vorigen Donnerstag dann wurden drei pakistanische Grenzsoldaten von amerikanischen Helikoptern aus erschossen. Die Helikopter wollten nach amerikanischer Darstellung „Feuer von jenseits der Grenze erwidern“. Die pakistanische Version besagt, die Grenzsoldaten hätten Warnschüsse abgegeben, um die Helikopter darauf hinzuweisen, dass sie die Grenze überquerten.
Für die pakistanische Armee wiegt es schwerer, wenn Armeeangehörige Opfer der Angriffe werden, als wenn es sich um Zivilisten handelt, die möglicherweise mit Terrorgruppen sympathisieren. „Die Amerikaner führen Krieg gegen uns!“ war die Reaktion der pakistanischen Offiziere. Um ihre Empörung zu unterstreichen, schlossen sie den Hauptgrenzübergang nach Afghanistan in Torkhan, wo sich nun die amerikanischen Transporte stauen.
Am Tag nach der Schliessung überfielen 15 bis 20 schwerbewaffnete Terroristen amerikanischen Tankwagen. Die Fahrer wurden in die Flucht gejagt und mindestens 27 Tankwagen angezündet. Dies geschah in Shikarpur, einem Flecken im nördlichen Teil von Sind, der südlichsten der pakistanischen Provinzen. Die Fahrzeuge waren unbewacht, weil die Strassen im Süden als sicher gelten. In Sind sind die Terroristen bisher nicht aktiv gewesen. Allerdings sind ihre Kampfgruppen im Schutz der paschtunischen Wanderbevölkerung in die Grosstadt Karachi eingedrungen.
Wer hat die Tanklastzüge überfallen?
Alle pakistanischen Beobachter scheinen sich darüber einig zu sein, dass der Überfall als eine Reaktion auf den Helikopterangriff im Norden zu sehen sei. Doch wer hat reagiert? - Die radikalen Islamisten oder die Armee? Die Armee wird weit von sich weisen, dass sie es gewesen sei. Jedoch, können die Islamisten von sich aus, so rasch und in einer von ihnen nicht durchdrungenen Provinz einen derartigen Anschlag organisieren? Unmöglich ist es wohl nicht, doch leichter fällt die Annahme, der ISI habe in irgendeiner Form Grünes Licht gegeben.
Die amerikanische Diplomatie ist sofort zur Schadenbegrenzung angetreten. Vielleicht wird sich alles zunächst wieder einrenken lassen. Man sollte jedoch in der gegenwärtigen Ereignissen den Beginn von tektonischen Verschiebungen in Pakistan erkennen. Die Flutkatastrophe und die Empörung unter ihren Opfern über Regierung und Amerikaner werden sich auswirken, von denen sie sich im Stich gelassen fühlen. Die Armee konnte ihre Hilfsbereitschaft zeigen. Politische Folgen werden nicht ausbleiben. Sie werden sich auch auf die halbe Kriegslage in Pakistan und auf die spannungsvolle Zusammenarbeit der beiden Armeen auswirken, die in diesen schwelenden Vorkrieg in unterschiedlicher Art und Weise miteinander und gegeneinander verwickelt sind.