Indien hat historische – und historisch verhängnisvolle – Tage hinter sich. Die Verabschiedung einer kleinen Änderung im Bürgerrechtsgesetz von 1955 in beiden Kammern des Parlaments ging glatt und schnell über die Bühne, dank der erdrückenden Mehrheit der regierenden BJP-Koalition.
Giftpfeile
Doch ebenso rasch breitete sich im Land eine Protestwelle aus, die in Strassenkämpfe und Brandschatzung mündete. Sie waren so heftig, dass paramilitärische Verbände mobilisiert werden mussten, und die Armee aus den Kasernen kam, ohne allerdings einzugreifen.
Die ersten Demonstrationen bildeten sich in Assam, das vom neuen Gesetz besonders hart getroffen wird. Proteste schlugen dann auf Westbengalen über, auch dieser Staat mit einer grossen muslimischen Minderheit. Am Wochenende wurde schliesslich die Hauptstadt Delhi zum Schauplatz gewalttätiger Zusammenstösse zwischen Studenten der Jamia Millia-Universität und der Polizei. Dann folgten eine Reihe von anderen Universitätsstädten, mit Studenten als Speerspitzen des Aufruhrs.
Dies rief nun auch Premierminister Modi auf den Plan. Während der Parlamentsdebatte über den Gesetzesvorschlag war Innenminister Shah als Wortführer der Regierung aufgetreten. Am Wochenende meldete sich nun auch Narendra Modi zu Wort. Zum ersten Mal legte er die Samthandschuhe des Landesvaters ab und sandte erste Giftpfeile. Man müsse nur auf die Kleider der Brandstifter schauen, tweetete er, um zu wissen, wer dahinter stecke.
Drohungen
Ein indirekter Hinweis auf die Kleiderwahl war klassischer Modi-Speak. Er kam vage daher und markierte dennoch den Sündenbock mit Präzision. Studenten sind ja nicht dafür bekannt, dass sie spezifische Kleiderformen wählen; es sind Mitglieder von Religionsgemeinschaften – in diesem Fall die Muslime mit ihren Képis und Burkas.
Und sollte die Exklusion des Muslims noch nicht deutlich genug sein, rief er am Dienstag bei einer Wahlveranstaltung aus, der Kongress und dessen Mitläufer sollten doch gleich allen Pakistanern das indische Bürgerrecht verleihen.
Darauf folgte die Drohgebärde von Big Brother: „The country is watching ... and the belief is getting stronger that Modi, the Parliament, the Government saved the country by bringing the citizenship law ...“ Damit zeichnet sich bereits die Strategie ab, die dieses Gesetz (und die damit verbundene nationale Registrierung aller Bürger) verfolgen: Die BJP profiliert sich als Partei aller Hindus, die Opposition sind muslim- und pakistanfreundliche Quislinge.
Generalverdacht des Terrorismus
Dabei waren es nicht einmal in erster Linie die Muslime, die das Strassenbild der Protestzüge bestimmten. Obwohl knapp 200 Millionen stark, trumpfen sie nicht mit ihrem demografischen Gewicht auf. Stattdessen ziehen sich die meisten in den Schutz ihrer Familien und Ghettos zurück. Dafür haben die Lynchjustiz der letzten Jahre und der reflexhafte Generalverdacht des Terrorismus gesorgt.
Nur bei den Freitagsgebeten nahmen Beobachter und Teilnehmer letzte Woche etwas Neues wahr. In hunderten Moscheen, namentlich im Westen und Süden des Landes, endeten die Predigten der Imame mit dem dringenden Aufruf, sich auf eine neue und existenzielle Prüfung vorzubereiten: Die Absicherung der zivilen Identität der muslimischen Minderheit.
Die neuen Paragrafen im Citizen Amendment Act Bill (CAA) sehen, ganz unschuldig und grossherzig, vor, dass verfolgte Minderheiten aus drei Nachbarländern das indische Bürgerrecht erwerben dürfen. Aber die Liste lässt die Muslime ebenso aus wie die nicht-muslimischen Nachbarstaaten. Dahinter verbirgt sich eine fundamentale Neuerung im indischen Staatsverständnis: Zum ersten Mal diskriminiert der Staat mit legalen Mitteln eine Minderheit anstelle der verfassungsmässig garantierten Gleichbehandlung aller Gemeinschaften und Bürger.
Kontrollen über Kontrollen
Dies kommt harmlos daher, geht es doch scheinbar nur um ausländische Flüchtlinge. Doch das CAA kommt ja im Doppelpack, zusammen mit einer Massnahme, die sich ebenfalls hinter einem Kürzel verbirgt: NRC. Es steht für National Registration of Citizenship, einer Überprüfung der staatlichen Identität von 1,4 Milliarden Indern.
Soeben ist eine NRC-Erfassung in Assam durchgeführt worden. Knapp zwei Millionen illegale Flüchtlinge wurden identifiziert und teilweise bereits in Schutzhaft genommen. Laut Innenminister Shah soll sich nun das ganze Land dieser Bürgerzählung stellen.
Doch in Assam erfolgte die Überprüfung, noch bevor das neue Bürgerrechtsgesetz CAA verabschiedet war. Sowohl Hindus wie Muslime verfingen sich deshalb im Netz der Illegalität. Mit dem neuen Gesetz ist es nun einfach, beide zu trennen: Hindus (und Christen, Buddhisten etc.) sind zwar illegal im Land, können aber nun das Bürgerrecht erhalten; Muslime dagegen nicht – es sei denn, sie verfügten über die notwendigen Papiere, die sie als Inder ausweisen: der Geburtsschein des Betroffenen und jener der Eltern, Wohnausweis, Wählerkarte.
Genau die Kontrolle dieser Ausweise legten die Imame den Gläubigen nun am letzten Freitag ans Herz. Nicht nur sollen sie die entsprechenden Dokumente (plus Bankkonten, Vereins- und Parteimitgliedschaften, Reiseausweise, Rationenkarte) bereithalten. Sie sollen zudem sorgfältig prüfen, ob die Jahresdaten, die Angaben über Herkunft und Wohnort sowie die Schreibung der Namen und Adressen übereinstimmen.
Verschiedene Schreibweisen
In einem vielsprachigen Land mit grosser Mobilität gibt es oft mehrere Schreibungen (etwa „Mohammed“ mit einfachem oder doppeltem M). Zudem sind vermutlich mehrere hundert Millionen Inder nie oder erst spät mit einem Geburtsschein ausgestattet worden. Entsprechend unterschiedlich können Geburtsdatum und -ort je nach Dokument lauten. Ein früherer Generalstabschef – ein Hindu, heute Minister in Modis Kabinett – musste vor Gericht erscheinen, als seine Pensionierung nahte, da es in seinen Papieren mehrere Varianten des Geburtsdatums gab.
Kein Bürger, und schon gar nicht ein Muslim, kann damit rechnen, dass die Beamten bei der Identitätsprüfung wohlwollend auf solche Varianten reagieren. Beim ersten Ernstfall in Assam genügte manchmal eine nichtidentische Schreibung, um den Identitätsbeweis für ungültig zu erklären und die Person in die Illegalität zu befördern; selbst die Berufungsbehörde zeigte sich in vielen Fällen uneinsichtig.
Sollte dies einem Durchschnittsinder islamischen Glaubens passieren, könnte dieser plötzlich seiner zivilen Identität verlustig gehen, selbst wenn seine Familie seit Generationen – „immer schon“ – in diesem Land lebt. Es ist nicht anzunehmen, dass er in Pakistan willkommen wäre, selbst wenn sich dessen Gründungsideologie als Heimat aller Muslime des Subkontinents verstand.
Historisches Reinemachen
Genau dieser Anspruch steckt hinter den Schikanen der Hindutva-Ideologen. Es ist ein historisches Reinemachen im „unfinished business of Partition“. Pakistan als Heimat aller Muslime? Gut, hier habt ihr die Muslime, die 1947 nicht ausgewandert sind.
Modi und Shah greifen hier die Ideologie der rabiaten Hindu Mahasabha-Organisation aus der Zeit vor der Unabhängigkeit auf, die sich explizit auf völkische Rassentheoretiker berief. Ihr Präsident, Veer Savarkar, hatte das Blut-und-Boden-Argument für ein islamisches Pakistan akzeptiert, weil er es auch für Indien und die Hindus anstrebte.
Dies wird sich selbstverständlich nicht mehr durchsetzen lassen. Und sowohl Modi wie Shah antworten auf entsprechende Fragen, muslimische Bonafide-Bürger hätten nichts zu befürchten. „Nichts“ ist ein relativer Begriff. Es wird sicher nicht zu Ausweisungen kommen – wohin würden die Opfer auch gehen?
Ein früherer Vorsitzender des Hindutva-Kaderbands RSS hat bereits vor achtzig Jahren skizziert, was mit den Muslimen passieren könnte. M. L. Golwalkar meinte in seiner Streitschrift, „A Bunch of Thoughts“, Muslime und Christen würden als Bürger zweiter Klasse toleriert, wenn sie sich gänzlich dem Wohlwollen der Hindu-Mehrheit anheimgeben.
Willfähriges Gericht
Noch ist nicht alles verloren, meinen ein paar überlebende Optimisten. Indien sei ein Rechtsstaat, in dem eine Verfassung gelte, die alle Bürger gleich behandelt. CAA und NRC seien flagrante Verletzungen des Grundsatzes der Gleichbehandlung. Mehrere Zivilpersonen und Institutionen bereiten bereits Klagen beim Obersten Gericht vor. Dieses hat die Autorität, jedes Gesetz umzustossen, das der Verfassung widerspricht.
Noch vor zehn Jahren wären die Chancen solcher Klagen gut gewesen, wohlwollendes Gehör zu finden. Die Tatsache, dass Modis Regierung, kaum ist sie gewählt, diese Herausforderung kaltblütig annimmt, zeigt, dass auch das Oberste Gericht vor dem Stimmungswandel nicht immun ist.
Bereits im August haben Modi und Shah im Schnellverfahren den Verfassungsartikel 370 ausgeschaltet, der Kaschmir einen Autonomiestatus zugestand – bisher ohne Einsprache des Gerichts. Im Gegenteil, dieses hat bisher alle Begleitmassnahmen gutgeheissen, obwohl sie mit fragwürdigen Rechtsargumenten begründet waren. Dies betrifft etwa die Einschränkungen der Rede- und Bewegungsfreiheit sowie die anhaltende Inhaftierung von Politikern und Aktivisten der Zivilgesellschaft.